Gwydion 04 - Merlins Vermächtnis
hattet. Du weißt schon, ob man Kinder nach Dinas Emrys bringen sollte oder nicht.“
„Und was hast du in unseren Gesichtern gelesen?“ fragte Gwyn.
„Ein tief greifendes Missverständnis. Ich habe den Verdacht, dass Lancelot etwas ganz Ähnliches widerfahren ist wie diesen Kindern. Ich weiß nicht, ob ihn Evienne als Säugling geraubt hat oder ob er ihr überantwortet wurde. Aber ich glaube, er ist ein Mensch, der noch heute nach seinen Wurzeln sucht.“
„Aber das ist doch Unsinn“, sagte Gwyn. „Ich kenne keinen Menschen, der so in sich ruht wie Lancelot.“
„Ja, er kann sich sehr gut verstellen. Er ist das, was wir Frauen einen einsamen Wolf nennen. Nach außen hin stark, unbeugsam, selbstbewusst. Aber wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass seiner scheinbaren Unabhängigkeit auch eine Art Getriebensein innewohnt.“
Gwyn runzelte ungläubig die Stirn.
„Doch, glaub mir. Lancelot ist der einsamste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Ich glaube, dass du der einzige Freund bist, den er in all den Jahren hatte. Er liebt dich, Gwyn. Er verehrt dich. Und er würde auch ohne Treueid für dich sein Leben lassen.“
Als hätte der alte Ritter Katlyns Worte gehört, drehte er sich langsam zu den beiden um. Als er Gwyn und Katlyn nebeneinander reiten sah, huschte ein Lächeln über das ernste Gesicht.
„Wie war er eigentlich?“, fragte Katlyn unvermittelt.
„Wer?“
„Dein Ziehvater. Do Griflet.“
Gwyn zuckte mit den Schultern. „Er war ein Bauer.“
„Das habe ich nicht gemeint. Wie war er als Mensch?“
Gwyn dachte nach. „Stolz. Ehrbar.“
„Gerecht?“
„Ja, auch das.“
„Liebevoll?“
Gwyn schaute Katlyn misstrauisch an. „Worauf willst du hinaus?“
„Du bist in dem Glauben aufgewachsen, dass Do Griflet dein richtiger Vater ist und dennoch hast du nie ein Wort der Anerkennung über ihn verloren. Warum eigentlich? War die Zeit bei den Griflets so schlimm?“
„Sie war hart“, antwortete Gwyn. „Ich hatte immer das Gefühl, ein Fremder in dieser Familie zu sein. Und dieses Gefühl verspürte ich schon, als ich noch gar nichts von meiner Vergangenheit wusste. Do Griflet hat mich immer ein wenig zurückhaltend behandelt.“
Katlyn schaute Gwyn ungläubig an. „Du bist der Sohn der Frau, die er mehr als alles andere auf der Welt liebte, und du behauptest, er wäre dir gegenüber zurückhaltend gewesen? Das nehme ich dir nicht ab.“
„Aber wenn es so war!“
„Glaubst du nicht, dass du vielleicht durch dein eigenes Verhalten auch etwas dazu beigetragen haben könntest?“, bemerkte Katlyn zaghaft.
„Katlyn, was soll das?“, fragte Gwyn ärgerlich.
Sie schien unsicher, wie sie das, was sie sagen wollte, in die richtigen Worte kleiden konnte. „Ich glaube, dass du deine Aufgabe als Fischerkönig erst dann bewältigen kannst, wenn du mit dir selbst ins Reine gekommen bist.“
„Das bin ich! Ich habe mein Schicksal akzeptiert. Selbst Merlin wäre stolz auf mich – wenn er bei uns wäre“, fügte er hinzu.
„Aber du hast keinen Frieden mit deiner Vergangenheit gemacht. Sie liegt noch immer wie ein Schatten auf deiner Seele.“
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte Gwyn.
„Gehe noch einmal nach Redruth. Sprich dich mit Do Griflet aus. Nach allem, was du mir von ihm erzählt hast, scheint er im Gegensatz zu dir kein Sturkopf zu sein.“
Gwyn schnaubte. „Wie stellst du dir das vor? Ich muss das Medaillon finden, mich auf die Suche nach dem Gral begeben, um dann in eine aussichtslose Schlacht gegen Mordred und Artur zu ziehen. Und du schlägst allen Ernstes vor, ich solle nach Redruth gehen und Do Griflet sagen, dass es mir leidtut, wie wir uns getrennt haben?“
Katlyn zuckte mit den Schultern und lächelte. „Ja.“
„Warum?“, fragte Gwyn aufgebracht.
„Weil du vielleicht keine zweite Gelegenheit mehr bekommen wirst.“
Die Sonne ging bereits unter, als sie die ersten Häuser von Caerdydd erblickten. Lancelot hatte ihnen den Flecken als kleines, verschlafenes Fischerdorf beschrieben, nicht wesentlich größer als Cadbury. Sie hatten eigentlich vorgehabt, am Hafen eine Herberge zu suchen, um am anderen Morgen ein kleines Schiff zu kaufen, mit dem sie Gwennap Head und den ganzen Süden der britannischen Insel umschiffen wollten.
Zu ihrer Überraschung war Caerdydd voller abgerissener, erschöpfter Menschen, die ihr Lager auf offenem Feld aufgeschlagen hatten. Die glücklicheren unter ihnen waren im Besitz eines Zeltes.
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