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H2O

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Titel: H2O Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patric Nottret
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von Inspektor Sénéchals Büro in den Tiefen des Umweltministeriums zu Paris verkündete ein humoristisches Plakat: Pierre Sénéchal, Ermittlung und Beschattung, Diskretion Ehrensache. Auf einem Regal zeigte die Pendeluhr, die unter einer Staubschicht unverdrossen tickte, knapp drei Uhr nachts an, als sich die Tür so abrupt öffnete, dass das Plakat flatterte. Mit verquollenen Augen betätigte Lucrèce den Lichtschalter. In der Rechten hielt er einen Spiral-Collegeblock. Seine Fliege saß schief, was bei ihm stets auf größte Müdigkeit hindeutete.
    Lucrèce ließ sich auf dem Schreibtischsessel nieder, dessen Einstellung er höchst unbequem fand. Er schimpfte vor sich hin, während er diesen Mangel sorgfältig korrigierte. Eines schönen Morgens hatte Sénéchal dieses chefsesselartige, aber schon etwas fadenscheinige Möbel, das er zu einem Spottpreis bei einem Trödler gekauft hatte, aus seinem Citroën Mehari entladen. Während er die imposante Sitzgelegenheit ohne erkennbare Anstrengung transportierte, hatte er seiner Vorgesetzten Dame Pottier erklärt, allein der Begriff Arbeit verursache ihm - was ihr nicht entgangen sein dürfte - Übelkeit und er ziehe es vor, in diesem Zustand des Leidens wenigstens bequem zu sitzen. Dame Pottier hatte mit den Schultern gezuckt, die Rechnung, die er ihr präsentierte - und der man schon von Weitem ansah, dass sie hausgemacht war - mit einer Handbewegung abgelehnt und anschließend den tristen Schreibtischstuhl, der bislang zur Ausstattung seines Büros gehörte, in den Konferenzraum gestellt. Seltsamerweise wurde er nie mehr benutzt.
    Nachdem der kleine Chemiker den Sitz zu seiner Zufriedenheit eingestellt hatte, schrieb er:
 
    Pierre,
    ich habe das Wasser aus den Kanistern, die in dem gesunkenen Boot gefunden wurden, nun mit mehreren Methoden analysiert und tatsächlich etwas Merkwürdiges entdeckt. Außer den Mineralstoffen und dem Dünger, die ich bereits festgestellt hatte, enthält dieses Wasser Proteine, und zwar großmolekülige Proteine, wie sie in lebenden Organismen vorkommen. Ich sage ausdrücklich »lebend« - im Gegensatz zu »tot«, versteht sich, aber auch, um diese organischen Elemente von mineralischen zu unterscheiden, die Du als Kiesel bezeichnest.
    Heute sind viele solcher Proteine bekannt, sie sind in internationalen Datenbanken gespeichert. In den Kanistern befanden sich mehrere Varietäten. Hatten sie einen bestimmten Zweck? Sind sie zufällig dort? Ich weiß es nicht, jedenfalls derzeit noch nicht. Auch über ihre Herkunft kann ich Dir nichts sagen.
    Der nächste Schritt wird also sein, ihre »Porträts« mit denen bekannter und erfasster Proteine zu vergleichen. Dafür gibt es spezielle Software.
    Falls sie noch nicht erfasst sind, wird die Sache schwierig.
 
    Er zögerte einen Moment, seufzte und fügte hinzu:
 
    PS: Ich bitte Dich, mich mit Sarkasmen über uns Chemiker zu verschonen!
 
    Nun las er das Geschriebene noch einmal durch, tippte mit dem Zeigefinger ein weiteres Ausrufezeichen, unterschrieb und sendete die Mail, bevor er seinen üppigen Körper aus Sénéchals Chefsessel hievte. Beim Umdrehen bemerkte er einen schwankenden Papierstapel und brachte ihn mit einer gemessenen Handbewegung wieder ins Lot. Er neigte den Kopf zur Seite, um sein Werk zu begutachten, schien zufrieden, trat auf den Flur und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Der Stapel zögerte eine Sekunde, dann geriet der obere Teil langsam ins Rutschen und brachte unaufhaltsam das gesamte Papiergebäude zum Einsturz.

30
 
 
 
    Im Flugzeug setzte Sénéchal seine Halbbrille auf und entfernte das Gummiband von dem Aktenordner, den Xi Ping Zhu ihm übergeben hatte. Der Ordner enthielt chronologisch geordnete Plastikhüllen. In der Hülle mit der Aufschrift Mahakam steckte nur ein einziges Blatt.
    Trotz des Raums, den der Hüne in Anspruch nahm, unternahm sein Sitznachbar, ein Indonesier mit dem Gebaren eines Geschäftsmanns, verzweifelte Anstrengungen, seine Zeitung geöffnet zu halten. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass dieser Riese etwas studierte, was wie die Fotokopie eines indonesischen Textes aussah. Er erkannte einige handgeschriebene Worte, die Schrift war winzig, manches kaum leserlich hingekritzelt, anderes durchgestrichen ... Eine seltsame Handschrift. Die Handschrift eines Kranken. Ja, das war es, eines Kranken ...
    Er reckte den Hals, um über seine Zeitung hinweg etwas zu entziffern, als Sénéchal sich ihm unvermittelt

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