Haarmanns Kopf
Zweck zugeführt zu werden, geriet an die Grenzen seiner Kapazität.
Er hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Erst in den frühen Morgenstunden hatte er sich zwei Stunden Schlaf gegönnt. Nun stand er kurz davor, seine Arbeit zu vollenden. Danach wartete ein weitaus wichtigerer Auftrag auf ihn. Diese Arbeit sollte die vorläufige Krönung seines bisherigen Schaffens werden. Immer wieder schielte er zu der Vitrine, die rechts von ihm stand, hinüber. Auf einem der gläsernen Fachböden standen zwei Behälter, die komplett von einem schwarzen Tuch bedeckt wurden. Allein die Nähe der verhüllten Objekte erregte ihn so sehr, dass es ihm von Minute zu Minute schwerer fiel, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Schließlich gab er auf. Sein Verlangen war zu mächtig. Er öffnete langsam die Tür der Vitrine und entfernte behutsam das Tuch. Er spürte eine Mischung aus Ehrfurcht und freudiger Erregung, die ihn bereits erfasst hatte, als er in den Besitz der Behälter gelangt war und den exotischen Inhalt zum ersten Mal betrachtet hatte.
Rechts, in Gelatine eingebettet und luftdicht verschlossen, der abgeschlagene Kopf des Delinquenten Haarmann . Das Gesicht verquollen, die Gesichtszüge noch gut zu erkennen. Die Haut auffallend blass. Das schüttere Haupthaar, die Augenbrauen und der Bart ließen ihre rote Färbung gerade noch erkennen. Die Augen waren geschlossen, ebenso der Mund.
Links schwammen in einer weiß-gelblichen Flüssigkeit die Gehirnschnitte Haarmanns.
Welche Schande, dass man das Organ auf diese Weise zerteilt hatte.
Der Präparator stand vor einer großen Herausforderung. Die Schnitte maßen nur wenige Mikrometer, und sie mussten zusammengefügt und zurück an ihren ursprünglichen Platz im Schädel gebracht werden.
Doch gemeinsam mit seinem Auftraggeber würde das gelingen.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, hatte dieser gesagt.
Und bald sollte das zusammenkommen, was zusammengehörte.
*
15:40 Uhr – Polizeipräsidium Göttingen. Yannik stand vor der Pinnwand in seinem Büro und zog Verbindungslinien zwischen den Fotos und Notizen, die er am Tag zuvor dort angebracht hatte. Er fügte das Foto des getöteten Pförtners Karl-Heinz Doschek hinzu, das ihm Max Friedmann, von der Kripo München, per E-Mail zugeschickt hatte.
„Ich kann mir nicht helfen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir irgendetwas übersehen haben“, sinnierte er.
„Was meinst du genau?“, fragte Martin und drehte seinen Drehstuhl in Richtung seins Kollegen.
„Wir haben die DNA von Dembowski, der aber hat ein Alibi. Wenn er nicht am Tatort war, wie ist dann seine DNA an den Tatort gelangt? Es gibt nur zwei mögliche Antworten auf diese Frage.“
„Und die sind?“
„Möglichkeit eins: Der Fundort ist nicht der Tatort. Möglichkeit zwei: Jemand hat dafür gesorgt, dass Dembowskis DNA an den Tatort gelangt ist, genau so, wie Dr. Paganetti es beschrieben hat“, kombinierte Yannik.
Martin runzelte sie Stirn und antwortete: „Im ersten Fall würde das heißen, dass jemand Langner dazu gezwungen hat, ihn zu Dembowski in die Klinik zu begleiten. Dembowski bringt Langner um, und der Unbekannte bringt den toten Langner zurück. Hört sich für mich nicht sehr praktikabel an. Im zweiten Fall bringt jemand Langner um und betupft die Bisswunde des Toten mit dem Speichel Dembowskis. In dem Fall hätten wir jedoch Mischspuren beziehungsweise zwei unterschiedliche DNA-Profile finden müssen. Und in beiden Fällen bleibt die Frage offen, wie Haare und Kopfhaut Dembowskis an den Tatort gelangten. Du hast ihn selbst untersucht und keine Verletzungen gefunden. Das passt alles nicht zusammen.“
„Was ist mit Paganetti?“, fragte Yannik.
„Wieso? Was soll mit ihm sein?“
„Na ja, wir setzen bisher bei ihm absolute Integrität und eine ausgezeichnete Reputation voraus. Aber haben wir ihn überprüft? Hat er für den Tatzeitpunkt ein Alibi?“
Yanniks Telefon klingelte. Er schaute auf das Display und sagte: „Das ist Friedmann.“
Während des Telefonats teilte ihm dieser mit, dass die Gehirnschnitte Haarmanns im Max-Planck-Institut nicht auffindbar waren. Am Lagerort, im Keller des Instituts, fand man in einem Regal lediglich eine staubfreie Stelle, die darauf schließen ließ, dass dort ein Behälter gestanden haben musste. Die verantwortlichen Mitarbeiter hatten keine Erklärung dafür.
„Das lässt nur eine mögliche Schlussfolgerung zu“, resümierte Martin, nachdem Yannik
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