Hab ich selbst gemacht
Funktionskleidung und Zubehör freuen sich über jährlich zweistellig wachsende Umsätze. Und Warenhäuser wie Manufactum, in denen »die guten alten Dinge« verkauft werden, finden immer mehr Fans, die dort gern viel Geld für einen dem Original aus alten Bauernhäusern nachempfundenen Speicherherd ausgeben oder reihenweise Einmachgläser einkaufen – im Manufactum in Berlin angeblich momentan der Verkaufsrenner.
Der neueste und lustigste Trend der Selbermacher und Landliebhaber ist die Hühnerhaltung in der Stadt. Dafür habe ich eine nette psychologische Erklärung gelesen: Die Menschen sehen, wie Hühner in der Industrieproduktion gequält werden. Weil das nicht mit ihrem romantischen Bild vom Landleben zusammenpasse, wollten sie die Hühner retten. Dafür aufs Land ziehen, wäre aber zu viel des Guten, deshalb bauten sie sich Hühnerställe in ihren städtischen Vorgärten. Und damit das auch gut aussehe, seien es nicht seltenDesign- und Luxusbehausungen, in denen die Bio-Stadthühner dann wohnen dürften.
Eine amüsante Schizophrenie entsteht da: Menschen stellen in der Stadt das nach, was sie für Landleben halten. Abseits des Gartenlebens gibt es dieses Phänomen jedes Jahr zwei Wochen lang 500 Meter Fluglinie von meiner Haustür entfernt zu besichtigen: Stadtmenschen ziehen sich zum Oktoberfest Dirndl an, weil sie »traditionell« sein wollen und es für die Kleidung der bayerischen Landbevölkerung halten. Diese schüttelt aber nur amüsiert oder verwirrt die Köpfe, denn ein Landleben im Dirndl gab es nie – dafür ist es als Kleidungsstück viel zu unpraktisch. Auch hier regiert einfach der große Mythos vom Landleben, vom einfachen Leben, von »früher«.
Realistischer war das, was Sarah Wiener und ihre Mitstreiter 2004 acht Wochen lang in der ARD – Sendung »Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus« gemacht haben. Sie stellten das echte – was vor allem hieß: harte – Leben auf dem Land nach: Wasser holen, Wäsche mit der Hand waschen, Brennholz hacken, Hühner schlachten, den Stall ausmisten, und das alles tagein, tagaus, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
Wie viel weniger mühselig und anstrengend ist da das virtuelle Landleben. Mehr als 75 Millionen Menschen weltweit spielen online in »Farmville« Landwirt, können per Mausklick ihre Felder umpflügen, die Tiere füttern und den Stall ausmisten. Alles ohne ins Schwitzen zu geraten, ohne Dung-Gestank und ohne die Sorge, dass am Abend die Teller leer bleiben, weil die Saison verregnet war. Das perfekte Spiel zum Landhype und wohl auch deshalb so gut besucht. Hier wird ein Bedürfnis befriedigt: etwas zu produzieren. Auch wenn es eine Pseudoproduktivität ist. Der Vorteil: Die Spieler müssen ihr Leben nicht wirklich in Frage stellen oder sogar ändern.
Das Prinzip hinter alldem scheint immer das Gleiche zu sein. Die Sehnsucht nach etwas wird größer, je weniger wirdamit zu tun haben. Je weniger wir die Natur kennen, desto größer wird unser Verlangen nach dem, von dem wir denken, dass es die Natur ist. Und: Je weniger wir mit unseren Händen selber machen, desto größer wird unsere Sehnsucht nach individuellen, selbst gemachten Dingen. Ob wir sie nun in einem kleinen Laden kaufen oder selbst am Abend häkeln. Genau das ist wohl das Geheimnis des Selbermach-Booms.
Nach dem Frühstück stapeln der Mann und ich die Pflaumenmarmelade in eine Kiste, die wir, wieder zu Hause, in die Abstellkammer unserer Wohnung stellen.
Im Briefkasten lag ein dicker Umschlag, der gestern noch gekommen sein muss: Der Anderlbauer hat mir geschrieben und mir die Rezepte für seine Käse kopiert. Ein ganzer Stapel Papier ist das, mit Rezepten für Ziegenmilchfrischkäse, Camembert und verschiedene Schnittkäse-Sorten. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wie ich den Keller des Anderlbauern bei uns zu Hause simulieren kann. Denn irgendwo muss der Käse ja reifen.
[Menü]
Tag 233
Knit two, purl one, repeat
Am Vormittag verpasse ich der Pfefferminze und der Zitronenmelisse einen Kurzhaarschnitt, um Sirup zu kochen. Ich trage die beiden Schüsseln mit den abgeschnittenen Stängeln nach oben in meine Küche, stelle mir das Radio an und fange an zu zupfen. So einen Arm voll Kraut zu zupfen dauert. Und am Ende habe ich trotzdem nur je eine große Tasse Pfefferminz- und Zitronenmelisseblätter. Ich schütte die einen Blätter in eine, die anderen in eine zweite Schüssel, kippe zwei Tassen Zucker darauf und etwas Zitronensaft und jage nacheinanderden neuen
Weitere Kostenlose Bücher