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Hab und Gier (German Edition)

Hab und Gier (German Edition)

Titel: Hab und Gier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Gesichtszüge. Judith mit ihren rundlichen Formen und ihrem dicken blonden Zopf kam Wolframs verstorbener Frau äußerlich näher, auch sie hatte einen schnippischen Zug um den Mund und diesen zartrosa Teint. Im Gegensatz zu meiner leicht gelblichen Haut.
    Ob mich mein ehemaliger Kollege gerade wegen des Unterschieds so schätzte? Schließlich war es ein enormer Sympathiebeweis, wenn er mir ein Großteil seines Erbes für einige kleine Gefälligkeiten überlassen wollte. Erst als ich zu Hause die eigenen Einkäufe aus dem Kofferraum nahm, entdeckte ich den Sack für die Reinigung, den ich völlig vergessen hatte.

5
    Das dritte Testament
    Wie bereits angekündigt, hatte Wolfram Kempner drei Entwürfe für ein Testament ausgedruckt; zum Testamentsvollstrecker hatte er einen persönlich bekannten Rechtsanwalt bestimmt. Aufmerksam studierte ich die erste Version, gegen die absolut nichts einzuwenden war. Nach Wolframs Ableben sollte ich mich um die Bestattung, den Gedenkstein samt Inschrift und die Grabpflege kümmern und dafür ein Viertel seines Besitzes erben. Der Rest sollte einem Hospiz zufallen.
    Auch die zweite Version bot keine Überraschung. Hier wurde zusätzlich verlangt, dass ich den Erblasser bis zu seinem Tod zu Hause versorgen und betreuen und dafür die Hälfte seines Eigentums erhalten sollte. Auf das dritte Blatt war ich gespannt, sah aber sofort, dass hier eine kurze Passage nur mit einem dünnen Bleistift eingetragen war. Die Forderungen aus Nr.   1 und Nr.   2 blieben bestehen, doch als Alleinerbin des Gesamtvermögens fungierte ich – Karla Pinter –, wenn…
    Mit gerunzelter Stirn las ich weiter: … wenn Frau P. mein Lebensende aktiv herbeiführt, allerdings unter der Bedingung, dass ich den Zeitpunkt, den Ort sowie die Art und Weise meines Todes selbst bestimme.
    Lauter adverbiale Umstandsangaben, verklausuliert und doch nicht klar. Wie mochte Wolfram sich seine letzte Stunde vorstellen? Der Zeitpunkt war nachvollziehbar: Ich sollte ihn nicht bereits heute Abend um die Ecke bringen, sondern erst dann, wenn es für ihn höchste Eisenbahn war. Der Ort? Wohl das eigene Bett, da er nicht im Krankenhaus oder Hospiz sterben wollte. Die Art und Weise? Sicherlich wollte er ohne Qualen sanft hinübergleiten – also durch Schlafmittel. Das war eigentlich alles nicht so schlimm; sollte ich mich doch lieber für die Nummer drei entscheiden und damit die Alleinerbin eines nicht unbeträchtlichen Nachlasses werden? Als ich freudig realisierte, was der unverhoffte Reichtum bedeutete, fing ich wieder an zu singen, die letzte Strophe von Wenn ich einmal reich wär : »Herr, du schufst den Löwen und das Lamm. Sag, warum ich zu den Lämmern kam! Wär es wirklich gegen deinen Plan, wenn ich wär ein reicher Mann?«
    Völlig aufgekratzt rief ich Judith an. »Hast du gerade viel zu tun? Bist du allein? Stör ich dich, es gibt spannende Neuigkeiten –«
    »Ich rufe zurück«, sagte Judith knapp. Hörte ich da einen kleinen, aber unmutigen Seufzer?
    Bis spät am Abend musste ich auf ein Lebenszeichen von ihr warten. Dennoch wurde ich allmählich ruhiger und immer nachdenklicher. Was dachte sich mein alter Bücherwurm bloß bei dieser Klausel? Würde sein Rechtsanwalt nicht das gesamte Testament anfechten bei einer so sittenwidrigen Vereinbarung? Ich musste das alles unbedingt mit Wolfram genau durchsprechen und mir meine Aufgaben im Detail erklären lassen. Immerhin konnte ich die zweite Version unbesorgt akzeptieren, falls die Nr.   3 doch nicht in Frage kam.
    Als Judith sich endlich meldete, verabredeten wir uns für den nächsten Tag bei ihr zum Frühstück, denn ich wollte gern mein Auto vorführen. Es war erst acht Uhr morgens, noch zwei Stunden Zeit, bevor die Bücherei öffnete. Judith hatte zwei Becher Latte macchiato, Butter und Honig hingestellt und Brötchen aufgetaut. Ich war bisher noch nicht oft bei ihr gewesen und hatte sie jedes Mal ein wenig bedauert, weil ihre kleine Wohnung mit geerbten Möbeln und allerlei Flohmarktartikeln so vollgestopft war, dass man sich kaum rühren konnte. Heute roch es gut nach frischem Kaffee und weniger anregend nach ungemachtem Bett, in der winzigen Küche türmte sich schmutziges Geschirr, aber auf dem Tisch prangte ein bunter Tulpenstrauß. Liebenswertes Chaos, dachte ich fast bewundernd. Bei mir dulde ich keine Lotterwirtschaft und ärgere mich manchmal selbst über meine fast zwanghafte Ordnungsliebe.
    Ich überreichte ihr die Klarsichthülle mit den

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