Hab und Gier (German Edition)
Abwechslung, Zuspruch und Gesellschaft hätte, ginge es ihm zweifellos besser. Aber Sie kennen ihn ja, er ist nun mal ein Eigenbrötler.«
Nachdenklich verließ ich die Praxis. Offenbar wollte der Arzt andeuten, dass Wolfram zwar keinen Wert auf Kontakte legte, gleichzeitig aber darunter litt. Mit anderen Worten: Unsere Besuche taten ihm gut, ließen ihn am Ende noch aufblühen. Wollte ich das?
Immer wenn die Batterie meiner Armbanduhr ihren Geist aufgab, betrat ich den kleinen Juwelierladen. Diesmal hielt ich dem Inhaber Bernadettes Ring unter die Nase.
»Eine Tante hat ihn mir geschenkt und behauptet, der sei echt. Aber ich habe meine Zweifel…«
»Mit Recht«, sagte der Meister und legte die Lupe wieder hin. »Modeschmuck aus den siebziger Jahren. Den können Sie höchstens für fünf Euro bei eBay loswerden. Tut mir leid, aber Sie hatten ja auch ohne mein hartes Urteil den richtigen Riecher.«
Wenn er annahm, ich sei enttäuscht, dann hatte sich der gute Mann geirrt. Es hätte mich sehr verdrossen, wenn Judith mit einem wertvollen Gegenstand beschenkt worden wäre.
Rechtzeitig für das Mittagessen war ich in der Biberstraße. Wolfram saß ausnahmsweise am Schreibtisch und machte sich Notizen.
»Ich liste gerade auf, welche Musik bei meiner Beerdigung gespielt werden soll«, erklärte er. »Das Lieblingslied meiner Frau war: Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus, Junge, fahr nie wieder, nie wieder hinaus! Das darf auf keinen Fall fehlen. Und ich selbst wünsche mir Goodbye Johnny .«
Unwillkürlich imitierte ich Hans Albers und sang: »…er war ein Tramp und hatte kein Zuhaus, und aus seinen Knochen wachsen Blumen raus…« Doch ich verstummte sehr schnell, beschämt über meine Taktlosigkeit.
»Oder meinst du, etwas Klassisches sei besser? Was rätst du mir?«, fragte Wolfram.
Etwas Klassisches? Trauermarsch von Chopin? Mozarts Requiem ? Das Ave Maria von Gounod? Eine Fuge von Bach?
»Ich dachte auch an Alphornklänge, weil mir dabei immer die Tränen kommen, aber es muss ja nicht unbedingt etwas Trauriges sein«, überlegte er weiter. »Du verstehst, glaube ich, mehr von Musik als ich, weil du doch so gerne in die Oper gehst, du darfst dir etwas wünschen. Ich hab ja sowieso nichts mehr davon.«
Ich muss gestehen, dass ich mich geschmeichelt fühlte. Also versprach ich, darüber nachzudenken, und fragte, ob vielleicht ein Stück aus Haydns Schöpfung in Frage käme, und summte ihm vor: … die Welt, so groß, so wunderbar… Er hatte das Duett von Adam und Eva noch nie gehört, und ich beschloss, ihm beim nächsten Mal die CD mitzubringen. Meine Stimmung, die sich gerade etwas aufgehellt hatte, wurde allerdings schnell wieder getrübt, als Wolfram sagte: »Judith hat ein Lied von Max Raabe vorgeschlagen. Es heißt: Kein Schwein ruft mich an . Ich kenne es nicht so genau, meinst du, sie will mir damit etwas sagen?«
»Keine Sau interessiert sich für mich!«, gab ich zurück, schlug die Tür zu, ging in die Küche und räumte zornig die eingekauften Lebensmittel in den Kühlschrank. Meine geliebte Haydn- CD würde ich ihm niemals ausleihen, beschloss ich, das waren Perlen vor die Säue beziehungsweise vor die Schweinchen geworfen.
9
Unter dem Dach
Langsam wurde es sommerlicher und wärmer, aber Tag für Tag wurde Wolfram ein wenig schwächer, aß weniger und schlief sehr viel. Ich begann mir Sorgen zu machen. Judith war eine ganze Woche lang nicht mehr bei ihm gewesen, er fragte jedes Mal nach ihr.
»Was meinst du«, sagte er an einem sonnigen Freitag und schaute mich mit seinen immer größer werdenden Augen fast flehend an. »Wird mich Judith morgen besuchen? Ich möchte euch nämlich ein Angebot machen: Ihr könntet eure Miete sparen und hier bei mir einziehen. Die eine ins Dachgeschoss, die andere im ersten Stock.«
Ich überlegte. Schon vor einiger Zeit war mir aufgefallen, dass sich Wolfram kein Frühstück mehr zubereitete, denn weder eine gebrauchte Tasse noch ein klebriger Löffel deutete darauf hin. Das Mittagessen war die einzige Mahlzeit, die er einnahm, und wohl auch nur, weil ich es vor seiner Nase aufbaute und ihm Gesellschaft leistete. Die Käseschnitte, die Tomate oder Banane, den Joghurt oder was ich sonst noch für abends auf ein Tablett stellte, fand ich oft genug im Mülleimer wieder, zur Tarnung in eine Zeitung eingewickelt. Es lag auf der Hand, dass die bisherige Betreuung nicht mehr ausreichte. Was war praktischer? Wenn ich dreimal am Tag aufkreuzte, oder
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