Hab und Gier (German Edition)
wenn ich endgültig hier einzog, was ja sowieso irgendwann geplant war? Dagegen sprach aber, dass ich eigentlich nicht hier wohnen wollte, bevor man ausgemistet und renoviert hatte. Gerade im ersten Stock, den ich ja für mich beanspruchte, erinnerte jedes Möbelstück an Bernadette, ganz zu schweigen vom Inhalt der Schränke und Kommoden. Abgesehen davon war sie genau dort so jämmerlich gestorben.
»Judith wohnt sehr beengt«, lenkte ich erst einmal von mir ab, »sie würde sich unter deinem breiten Dach bestimmt wohl fühlen. Wie sieht es dort überhaupt aus?«
Wolfram deutete auf den Sekretär und erklärte mir, in welcher Schublade Bernadette die Schlüssel aufbewahrt hatte. »Schau dich doch mal um«, sagte er. »Ich bin seit Jahren nicht mehr oben gewesen. Auch Maria sollte dort nicht herumschnüffeln, deswegen hatte meine Frau die Mansarden stets abgeschlossen.«
Mir klopfte das Herz – nicht nur wegen der vielen Treppen, sondern auch, weil ich im Grunde ein Hasenfuß bin. Was mochte mich da oben erwarten? Gerümpel, das seit 1897 dort lagerte, schimmlige Tapetenreste, faulende Balken, Sägemehl von Holzwürmern, am Ende gar tote Tauben, die durch ein gekipptes Fenster hineingeraten waren?
Der Spiegel im Flur zeigte eine verschreckte Karla. Doch statt heillosem Chaos betrat ich ein Zauberreich. Es war, als sei die Zeit stehengeblieben, ich fühlte mich wieder als kleines Mädchen. Das erste Zimmer sah wie ein Spielzimmer aus. Ein perfekt eingerichtetes Puppenhaus, das inzwischen sicherlich einen gewissen Wert hatte, entzückte mich am meisten. Aber auch die vielen Teddys, Püppchen und Wickelkinder, die aufgereiht auf einem grünen Plüschsofa saßen, waren so niedlich, dass ich sie am liebsten gleich in den Arm genommen hätte. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass man sie nicht mit Konfektionsware eingekleidet hatte, sondern mit aufwendiger Handarbeit – gehäkelten, genähten und bestickten Kleidchen. Eine Gruppe kleiner Fastnachtsfans hatte sich auf einem Korbstühlchen versammelt: Puppen und Tiere, die als Monster, Vampire und Teufel verkleidet waren, neben ihnen Prinzessinnen und ein wunderschöner Engel mit blondem Echthaar. Wie eine Fünfjährige musste ich sofort prüfen, ob die Puppen auch Unterwäsche trugen.
Offenbar hatte sich Bernadette in ihrem heimlichen Paradies nach Herzenslust ausgetobt. Hier hatte sie das eigene Spielzeug und – wie es aussah – auch das Erbe ihrer Mutter und Großmutter über Jahrzehnte vergeblich aufbewahrt, um es an eigene Kinder und Enkel weiterzugeben. Ein bisschen gespenstisch, ein bisschen krank, aber irgendwie nachvollziehbar. Einen Moment lang stiegen mir tatsächlich die Tränen in die Augen, weil auch mich bei nostalgischem Spielzeug eine verdrängte Sehnsucht und Trauer übermannt.
Doch genug von der kinderlosen Bernadette, es ging um eine Wohnung für Judith. Also betrat ich den nächsten Raum, und mich traf fast der Schlag. Hier war ein komplettes Babyzimmer eingerichtet: Wiege, Bettchen, Wickelkommode. Auf einem Hochstühlchen lag ein Lätzchen, über dem Bett hing eine Spieluhr mit Mond und Sternen. Ich zog an der Schnur und hörte ein Wiegenlied. Im Schrank stapelte sich neben einer Erstausstattung auch ein reichlicher Vorrat an Stoffwindeln, wie sie heute nur noch besonders umweltbewusste Eltern verwenden. Nebenan, im Badezimmer lag eine lebensgroße, nackte Babypuppe in einer kleinen Wanne, auch an ein Töpfchen und eine Plastikente war gedacht. Das Bad hatte man zwar in süßlichem Rosa gekachelt, doch es war durchaus funktionstüchtig, selbst warmes Wasser floss in vollem Strahl ins staubige Waschbecken. Eine weitgehend leere Küche und das dritte Zimmer wirkten durch die Schrägen zwar kleiner als in den unteren Geschossen, aber immer noch viermal größer als Judiths winzige Wohnung. Anscheinend gab es auch noch einen Speicher, zu dem eine enge und steile Holzstiege führte. Doch ich hatte bereits genug gesehen.
Wie hatte Wolfram das Hobby seiner Frau ausgehalten? Spielte sie mit Puppen, weil sie einen Dachschaden hatte oder um den eigenen Mann mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch zu quälen?
Es war kaum zu glauben, aber am Telefon sagte Judith sofort ja und amen, ohne sich das Spielzeugparadies auch nur angesehen zu haben. »Wenn man einmal den Fuß drin hat, ist das schon die halbe Miete«, sagte sie. »Im Übrigen werde ich meinen Kaninchenstall erst einmal behalten und nur das Nötigste hinschaffen. Und du solltest es genauso
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