Hab und Gier (German Edition)
Garten. Mit Zimmerpflanzen kannte ich mich zwar aus, aber hier wucherte alles durcheinander, und ich verlor den Überblick. Wie verhielt es sich zum Beispiel mit der Goldrute, die wohl bald hübsch blühte, aber in gewaltigen Mengen vorhanden war? Sollte man sie als Unkraut ausrotten? Mühsam bahnte ich mir einen Weg durch das hohe Gras, stach mich an einer Distel, verbrannte mich an Nesseln, bekam feuchte Hausschuhe, trat versehentlich auf blühende Kornblumen und erreichte endlich eine völlig verdreckte Bank, auf der man beinahe säen und ernten konnte. Mit einem abgebrochenen Zweig fegte ich Blätter, Samen, abgenagte Tannenzapfen und verschimmelte Kirschkerne hinunter, legte mein Taschentuch darauf und setzte mich. Wenn ich mir die momentane Verwahrlosung wegdachte, war dies ein idyllisches Plätzchen, wie ich es mir eigentlich mein Leben lang gewünscht hatte. Doch was ertastete ich da mit meinen Füßen? Einen tellergroßen Stein, der sich unter einem üppigen Holunderstrauch versteckte. Neugierig geworden, befreite ich ihn von Erde und Vogelkot, kratzte das Moos mit einem Stöckchen herunter und legte eine Inschrift frei: Bianca. Katze, Hund, Papagei oder weißes Kaninchen?, überlegte ich. Gelegentlich wollte ich diesen Namen mal erwähnen, um Wolframs Reaktion zu testen.
Als ich am Nachmittag mit einem Tablett aus der Küche kam, um den sonntäglichen Kaffee und ein paar Kekse ins Wohnzimmer zu tragen, saßen meine Mitbewohner dicht nebeneinander auf dem Sofa. Judith hatte ihren Laptop vor sich aufgestellt und zeigte Wolfram offenbar Fotos.
»So sieht es nach dem Umbau aus«, erklärte sie. »Das hier war früher dein Büro. – Ich musste mich erst einmal daran gewöhnen, dass die Krimiabteilung jetzt im linken Flügel untergebracht ist.«
Offenbar handelte es sich um unsere Bibliothek und um Fotos der letzten Halloween-Nacht. Ich setzte das Tablett ab und mich neben Wolfram. Mit leichtem Widerwillen betrachtete ich das Foto meiner ehemaligen Kollegin, die in einem albernen, zerfetzten Zombie-Kostüm steckte, mit ekligen Latex-Wunden, gelben Kontaktlinsen und Hörnern ausgestattet war und perfide in die Kamera grinste.
»Wolltest du eine Teufelin sein?«, fragte ich bissig.
»Ganz egal: Vampir, Satan! Hauptsache gruselig«, erklärte sie stolz.
»Klasse«, sagte Wolfram. »Wir zwei würden ein perfektes Team abgeben, wenn ich noch bei Kräften wäre.«
»Der Kaffee wird kalt«, sagte ich. »Wenn ihr mit diesem Quatsch nicht sofort aufhört, gehe ich wieder in den Garten zu Bianca!«
Wolfram fuhr zusammen wie vom Blitz getroffen.
Judith sah mich verständnislos an und fragte: »Wer ist Bianca?«
Das könne wohl nur Wolfram erklären, meinte ich, rückte ein Stück von ihm ab und trank einen Schluck.
»Sie hat nie gelebt«, flüsterte er leise.
»Wer?«, fragte Judith und griff mitfühlend nach seiner Hand.
Es war eine traurige Geschichte. Vor mehr als zwanzig Jahren wurde Bernadette von ihrer portugiesischen Haushaltshilfe ins Vertrauen gezogen. Ob Bernadette vielleicht wisse, wo und wie ihre blutjunge, völlig verzweifelte Schwester eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen könne. Das arme Mädchen habe einen braven, nichtsahnenden Verlobten in Nazaré. Leider habe sich ihre kleine Schwester in Lissabon, wo sie in der Küche eines Hotels arbeite, von einem Ausländer verführen lassen. Bernadette, die sich nichts mehr als ein Kind wünschte, witterte eine letzte Chance. Maria solle die unglückliche Marta unter dem Vorwand einer besser bezahlten Stelle nach Deutschland kommen lassen. Im Haus der Kempners konnte sie dann die kommenden Monate ein wenig ausspannen, schließlich ihr Baby zur Welt bringen, noch eine Weile als stiller – beziehungsweise stillender – Gast bleiben und schließlich zurück nach Portugal fliegen und heiraten. Wolfram und Bernadette wollten das Baby beim Standesamt als ihr eigenes anmelden, denn für eine Adoption waren sie schon zu alt. Für die streng katholischen Schwestern Maria und Marta war das eine annehmbare Lösung, um den Qualen des Höllenfeuers zu entgehen.
In jener Zeit war Bernadette sehr glücklich, richtete ein Kinderzimmer ein, sorgte rührend für die schwangere Marta, gab ihr Deutschunterricht und wurde selbst zusehends dicker. Das Baby wollte sie in Absprache mit der werdenden Mutter Bianca oder Luis nennen.
Doch leider hatte die arme Marta im achten Monat eine Totgeburt, und Bernadettes Träume zerschlugen sich. Der winzige Körper des toten
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