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Hab und Gier (German Edition)

Hab und Gier (German Edition)

Titel: Hab und Gier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Mädchens wurde heimlich im Garten beerdigt, niemand sonst erfuhr von der Tragödie. Ein Jahr später heiratete Marta ihren Freund. Sie bekam drei Söhne und ließ gelegentlich durch Maria einen Gruß ausrichten.
    Mir kamen die Tränen, doch Judith schüttelte missbilligend den Kopf. »Ein ebenso verwegener wie schwachsinniger Plan«, sagte sie, »der so oder so in die Hose gegangen wäre. Habt ihr Marta je zum Ultraschall geschickt? Sollte sie das Kind etwa zu Hause und ohne Hebamme kriegen? War Bernadette nicht längst in den Wechseljahren, so dass auch ein naiver Standesbeamter stutzig geworden wäre? Was hätten die Nachbarn gedacht? Die schwangere Marta ist doch bestimmt nicht die ganze Zeit über unsichtbar in der Mansarde geblieben. Und habt ihr im Ernst geglaubt, dass sie ihr Kind nach längerer Stillzeit wieder herausgerückt hätte und –«
    Wolfram unterbrach ihren Redeschwall. »Das waren Argumente, die auch ich anführte, doch vergeblich. Angeblich war alles Frauensache. Mir blieb nur die schmerzliche Aufgabe, aus den Brettchen einer Weinkiste einen kleinen Sarg zu zimmern. Bianca wog kaum mehr als fünfhundert Gramm.« Auch ihm standen Tränen in den Augen.
    Ich dachte an Bernadettes Grab mit der ungewöhnlichen Inschrift, an Wolframs eigenen bizarren Wunsch und an den kleinen weißen Stein im Garten. Wollte ich wirklich in einem Haus mit so vielen Altlasten leben? Doch schließlich war ich ein vernünftiger Mensch, glaubte nicht an eine Aura, an Geister oder andere esoterische Phantastereien. Jedes ältere Gebäude hatte eine Vergangenheit, die nicht nur aus erfreulichen Ereignissen bestand, und Steine waren letzten Endes tote Materie ohne Gedächtnis.
    Die nächste Woche verlief angenehmer, das Wetter blieb sommerlich und heiter. Ich begann damit, täglich ein wenig im Garten zu arbeiten. Judith war tagsüber fort.
    Wolfram ging es sichtlich besser. »Eigentlich will ich noch gar nicht sterben«, sagte er nach einem leichten, perfekt geratenen Mittagessen. »Das Leben mit euch ist wunderbar. Seit du mir den Plastikhocker in die Dusche gestellt hast, komme ich im Bad ganz gut zurecht und fühle mich viel frischer. Ich bin euch so dankbar…«
    Eigentlich hätte ich die Sache mit dem Testament erneut zur Sprache bringen sollen, aber ich brachte es nicht übers Herz.
    »Die Terrasse habe ich heute einigermaßen sauber bekommen«, sagte ich stattdessen. »Wenn du möchtest, hole ich die Liegestühle aus dem Keller, und du legst dich ein wenig in die Sonne. Dann fühlst du dich wie im Urlaub!«
    Wolfram schüttelte den Kopf. »Nach dem Essen muss ich mindestens zwei Stunden ruhen, und zwar im Bett«, meinte er. »Draußen ist es mir zu hell, zu kalt und zu laut.«
    Dafür lag ich dann in der Sonne, fand es wunderbar und gar nicht zu kühl.
    Als ich am Abend gerade mein Schlafzimmer betreten wollte, flitzte Judith die Treppe herunter und huschte gleichzeitig mit mir herein.
    »Lies mal«, sagte sie atemlos und hielt mir eine Zeitung hin. »Der Mannheimer Morgen hatte zwar bereits über diesen Prozess berichtet, aber jetzt ist es tatsächlich zu einer Verurteilung gekommen!«
    Es ging um die Mordanklage gegen einen alten Mann, der seine unheilbar erkrankte Frau getötet hatte. Ich überflog den Artikel, ließ das Blatt sinken und fragte: »Na und?«
    Judith nahm mir die Zeitung wieder aus der Hand und las mir den betreffenden Abschnitt vor:
    »Tötung auf Verlangen ist im §   216 des Strafgesetzbuches definiert: Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.«
    »Ich habe in unserem Fall mit einem Freispruch gerechnet«, erläuterte sie, »wenn wir nachweisen können, dass Wolfram die Tötung von uns verlangt hat. Die machen uns einen schönen Strich durch die Rechnung. Fehlt nur noch, dass unsere Erbschaft angefochten wird.«
    Mir schwirrte der Kopf.
    »Übrigens habe ich gehört«, begann sie wieder, »dass das Thema auch in einem Film mit Jean-Louis Trintignant und Emanuelle Riva behandelt wird.«
    »Ich habe Amour gesehen«, sagte ich. »Da geht es um die Liebe eines alten Paares, nicht um Moral oder Paragraphen. Und es ist auch ein gewaltiger Unterschied, ob man aus Erbarmen einen nahestehenden Menschen von unerträglichen Schmerzen erlöst oder aus eigennützigen Motiven.«
    »Manchmal habe ich fast das Gefühl«, sagte Judith etwas spitz, »dass du den Alten mehr

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