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Hab und Gier (German Edition)

Hab und Gier (German Edition)

Titel: Hab und Gier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Schrift, gut leserlich und ein wenig nach rechts geneigt. An einigen Buchstaben entdeckte ich charakteristische Schnörkel, zum Beispiel am Eszett. Er hatte sich nicht auf die neue Rechtschreibung eingelassen und dass nie mit zwei s geschrieben. – Ich habe schon immer gern gezeichnet, Schriften ausprobiert, Muster und Ornamente mit schwarzem Filzstift auf blütenweißem Papier entworfen. Wolframs Handschrift zu imitieren war eine angenehme Herausforderung für mich, zumal sie meiner eigenen gar nicht so unähnlich war.
    In überdrehter Stimmung saßen wir nebeneinander am Küchentisch und hatten als Muntermacher eine Flasche Wein geöffnet. Vor uns lagen ein Stapel Druckerpapier und verschiedene Kugelschreiber, eine zusätzliche Stehlampe spendete helles Licht. Schon bei den ersten Fälschungsversuchen erwies sich, dass ich ganz eindeutig die Begabtere war, obwohl ich mit dem Resultat noch keineswegs zufrieden war.
    »Sieh mal«, sagte ich, eifrig wie ein ABC -Schütze, »das sieht leider noch ziemlich unbefriedigend aus. Irgendetwas stimmt nicht…«
    Judith betrachtete meine Versuche mit Hochachtung und überlegte. Plötzlich schlug sie sich an die Stirn. »Wir sind aber auch so was von doof! Klar doch, Wolfram hat nie mit Kugelschreiber geschrieben, immer nur mit Füller. Aber wo mag er ihn aufbewahrt haben? Hier bei den Schreibsachen gibt es nur Bleistifte und Kulis.«
    »Stimmt, er hat sogar die Einkaufszettel mit Tinte geschrieben«, fiel mir ein. »Vielleicht werden wir ja im Wühlfach fündig…«
    In der Küche gab es tatsächlich eine Schublade, in der eine bunte Mischung aufbewahrt wurde: Einmachgummis, Notizpapier, Zahnstocher, Etiketten und dergleichen mehr. Als ich triumphierend nach dem Füller greifen wollte, hielt mich Judith gerade noch zurück.
    »Keine Fingerabdrücke!«, befahl sie, und ich zog etwas missmutig die unbequemen, dünnen Einweghandschuhe an, die neben der Spüle in einem rosa Plastikkasten lagerten. Immerhin hatte sich die Suche gelohnt, denn meine Schreibweise sah nach einigen Probekritzeleien viel authentischer aus.
    »Man könnte doch einfach durchpausen«, schlug Judith vor.
    Ausnahmsweise wusste ich es jetzt besser. »Das wäre ein grober Fehler und fiele selbst einem einäugigen Notar auf! Das Schriftbild muss flüssig wirken, darf nicht stocken oder allzu häufig absetzen. Ich werde jetzt weiter üben, bis morgen früh bin ich eine perfekte Fälscherin!«
    Im Eifer waren meine anfänglichen Skrupel schnell vergessen. Einen Bogen nach dem anderen schrieb ich voll, ein Testament nach dem anderen diente als Vorlage. Dabei stellte ich mir vor, dass es sich bloß um ein Spiel handelte, denn es waren ja alles noch keine endgültigen Reinschriften.
    Es wurde immer später, Judith hatte ihre kläglichen Versuche längst aufgegeben, blätterte in einem Verlagsprospekt und gähnte.
    Plötzlich schreckte ich hoch, denn ich hörte eine Tür knarren, wenn auch nicht die Haustür. »Cord!«, flüsterte ich, und Judith sprang auf.
    »Er hat offenbar den Garagenschlüssel eingesteckt«, sagte sie, lief in den Flur und lauerte am Aufgang der Kellertreppe.
    Mich überfiel panische Angst. Was, wenn es auch mir an die Kehle ging? Blitzschnell ließ ich meine schriftstellerischen Versuche im Backofen verschwinden und versteckte mich hinter dem Besenschrank.
    Doch Judith und er schienen geradewegs nach oben zu gehen, ich konnte hören, wie sie lauthals stritten.
    Kaum hatte ich aufgehört zu zittern, betätigte ich mich wieder als Kopistin, bis mir beinahe die Augen zufielen. Bevor ich aber zu Bett ging, verstaute ich meine Produkte erneut im Backofen. Falls Cord doch noch irgendwann die Küche betreten sollte, würde er keine Indizien vorfinden.
    Im Schlafzimmer schloss ich mich ein. Es war mir unheimlich, dass ein Stockwerk über mir ein Mörder schlief.
    Meine Träume in jener Nacht waren grauenhaft. Ich wurde zur Beute zweier Werwölfe, die beide an mir zerrten, furchterregend knurrten und mit den Zähnen fletschten, bis sie schließlich übereinander herfielen und sich gegenseitig zerfleischten.
    Rentner können zwar theoretisch so lange schlafen, wie sie Lust haben, aber leider gelingt ihnen das nur noch selten. Das beneidenswerte Talent der Jugend, an Feiertagen bis in die Puppen aufzubleiben, um dann bis nachmittags schnarchend im Bett zu liegen, verliert sich mit den Jahren. Schon lange werde ich meistens um sieben oder spätestens um acht Uhr wach. Doch es gibt auch Ausnahmen wie am

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