Habiru
- sie sahen aus, als ob sie noch eine Weile weiterfeiern und diskutieren wollten - und wünschten eine gute Nacht. Und dann gingen sie hinaus in die Nacht. Der Mond war mittlerweile weitergewandert und senkte sich bereits wieder gen Horizont, so dass überall lange Schatten des Mondlichtes zu sehen waren. Es war faszinierend. Sarah wusste nicht, ob es die Wärme der Nacht war, die betörende Wirkung des Alkohols, oder die seltsamen Lichtspiele des Mondes - oder alles zugleich. Auf jeden Fall spürte sie ihre Umgebung so stark wie noch nie vorher, wie selbst in der Matu-Hütte oder unter dem Granatapfelbaum auf der Insel im See nicht.
Als ob das Leben selbst wellenartige Spuren hinterließ, welche pulsierten und
mit ihrem Rhythmus im Einklang standen. Jedes Lebewesen schien solch Spuren zu hinterlassen. Sie konnte deutlich die vielfältigen Unterschiede wahrnehmen. Es löste in ihr wahre Glücksgefühle aus. Sie sagte laut: »Was ist das?« Schena schien zuerst nicht zu verstehen. »Was meinst du?«
»Ich kann das Leben spüren.«
Schena sah sie an: »Arnek hatte recht. Du bist besonders empfänglich. Viele
von uns können das nur nach langer Übung und tiefer Meditation. Oder nur als Kind.«
Sarah begriff gar nichts. »Was passiert hier? Wie kann das sein, dass ich so empfänglich bin?«
»Warum du? Das weiß ich auch nicht. Aber generell kann ich das erklären: Du
lebst doch selbst auch, und bist mit allem anderen Leben verwandt und verbunden. Komm, lass uns mal in den Wald gehen und einen Baum suchen. Dann wird es besonders deutlich.«
Sie folgte der vorausgehenden Schena mit langsamen Schritten. Sarah blickte sich immer wieder fasziniert um. Warum hatte sie bisher ihre Umgebung nie so wahrgenommen? Hatte sie irgendwelche Drogen genommen?
Ihre innere Stimme, die sich länger nicht mehr gemeldet hatte, sagte ihr, die Idee mit den Drogen sei Unsinn. Sie würde nur langsam aber sicher wieder ihre Fähigkeiten zurückerlangen, die jede Frau in sich trug. Die jedes Leben in sich trug. Vielleicht war es die Berührung mit der Statuette der Großen Mutter in der Matu-Hütte.
Sie gingen Hand in Hand in Richtung des Waldes. Dort, wo ihre Hand die von Schena berührte, verdoppelten sich die pulsierenden Wellen des Lebens. Der Wald war schon zu sehen - er war bei Tageslicht nur ein paar Minuten in norwestlicher Richtung entfernt, aber jetzt im Dunkeln brauchten sie etwas länger, um ihn zu erreichen.
Er sah nun aber gänzlich anders aus - nicht, wie ein Wald im Dunkeln aussehen sollte, und anders, als alles, was sie je im Leben gesehen hatte. Myriadenfache Spuren des Lebens waren auf unvorstellbare Weise miteinander verflochten und verwebt. Es formte ein gewaltiges, pulsierendes Etwas. Sarah blieb stehen und bewunderte diesen Anblick. Schena zog sie sanft an der Hand, sie wollte weitergehen.
Dann hatten sie es geschafft. Sie betraten den Wald und ließen die ersten Bäume hinter sich. Sich innerhalb dieses Gebildes zu befinden war noch wunderbarer als es zu betrachten.
Normalerweise hätte ich Angst haben sollen, hier draußen im dunklen Wald. Zu Hause hätte ich das ganz sicher. Aber hier fühlte sie sich wohl und geborgen. »Such dir einen Baum, der dir besonders gefällt.« sagte Schena leise, als ob laute Worte die Harmonie des Lebens beeinträchtigen würden. Sarah ging ohne zu zögern auf einen besonders hohen Baum zu.
Intuitiv breitete sie ihre Arme aus und umfasste mit ihnen die Rinde. Die Wellen reagierten auf sie, sie wurden impulsiver, stärker, und durchfluteten die Umgebung. Und sie.
Gleichzeitig gab sie dem Baum mit der Berührung auch ein Teil ihrer Wellen ab. Diese Interaktion war unglaublich, nicht in Worte zu fassen, wenn Sarah recht überlegte, musste es so etwas ähnliches wie ein Orgasmus sein, den Schena den kleinen Tod nannte.
»Kannst du sie auch spüren?«
»Ja.«
Schena stand neben ihr und schien genau zu wissen, was Sarah empfand.
»Wie kann man etwas so Lebendiges töten?« fragte Schena, nun auch ganz im Gedanken an Sarahs Worte über das Abholzen von Bäumen und die Klimaveränderung und Wüstenbildung versunken.
»Wer anderes Leben verletzt, verletzt sich selbst. Du verstehst es doch, nicht wahr? Wer einmal die Wellen des Lebens wahrgenommen hat, ist unfähig, anderen Leid anzutun, weil er weiß, dass er sich damit nur selbst schädigt - oder das Leben folgender Generationen.«
Sarah verstand. Und das ohne nachzudenken. Es war viel tiefgehender. Jede einzelne Zelle ihres
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