Hades
Familie Knox hatte verfallen lassen. Es war sicher einmal würdevoll und wunderschön gewesen – damals, in der Zeit, als die Mädchen noch Anstandsdamen hatten und zu den Klängen des Klaviers Walzer tanzten. Zusammenkünfte der Jugend waren stilvoll und unschuldig vonstattengegangen verglichen mit dem Chaos, das heute über das alte Haus hereinbrach. Ich stellte mir vor, wie sich genau auf dieser Terrasse ein Herr im Frack vor einer Dame in einem schwingenden Kleid verbeugte (nur dass die Terrasse in meiner Vorstellung glänzend und neu war und sich Heckenkirsche um die malerischen Pfosten wand). Vor meinem geistigen Auge sah ich einen sternenklaren Nachthimmel und geöffnete Flügeltüren und hörte die Musik in die Nacht hinausschallen.
«Halloween ist echt das Letzte.» Ben Carter aus meinem Literaturkurs ließ sich neben mir nieder. Normalerweise hätte ich etwas erwidert, aber Xavier hatte seinen Arm so fest um mich gelegt, dass es mir schwerfiel, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Aus den Augenwinkeln sah ich seine Hand, die locker über meiner Schulter hing. Es gefiel mir, dass er den silbernen Freundschaftsring trug, das Zeichen, dass er in festen Händen war, für niemanden zu haben außer für mich. An einem Achtzehnjährigen, der so gut aussehend und beliebt war wie er, wirkte ein solcher Ring altmodisch, beinahe unpassend. Vor allem, weil jeder, der Xavier zum ersten Mal betrachtete – seine gute Figur, den coolen türkisfarbenen Blick, das charmante Lächeln und die walnussfarbene Haarsträhne in der Stirn –, sofort wusste, dass er an jeder Hand fünf Mädchen haben könnte. Nur wer ihn näher kannte, wusste, dass er mir voll und ganz verfallen war. Und das, obwohl er nicht nur gut aussah, sondern auch eine Führungspersönlichkeit war, zu der die anderen aufsahen und die sie respektierten. Ich liebte und bewunderte ihn, und ich konnte noch immer nicht wirklich glauben, dass er mir gehörte. Wieso durfte ausgerechnet ich mich so glücklich schätzen? Manchmal hatte ich Angst, dass er nur ein Traum war und verschwinden würde, wenn ich nicht aufpasste. Aber noch saß er neben mir und hielt mich fest und sicher.
Als langsam klar wurde, dass ich gedanklich abwesend war, antwortete Xavier für mich.
«Mach dich locker, Carter, du bist auf einer Party», sagte er lachend.
«Wo ist dein Kostüm?», fragte ich und zwang mich selbst zurück in die Wirklichkeit.
«Ich verkleide mich aus Prinzip nicht», sagte Ben zynisch. Er gehörte zu den Jungs, die immer meinten, dass sie über den Dingen standen. Seine Verachtung für alles und jeden zeigte er darin, dass er nirgendwo mitmachte. Trotzdem tauchte er überall auf, nur für den Fall, dass er irgendetwas verpassen könnte. Beim Anblick der Spitzenunterwäsche auf der Terrasse verzog er angewidert das Gewicht. «Mann, die machen mich krank», sagte er. «Ich hoffe, ich verliebe mich nie so heftig, dass ich Sex in einem Traktor haben muss.»
«Das mit dem Traktor kann ich nicht beurteilen», sagte ich spöttisch, «aber dass du dich mal irgendwann verliebst, da bin ich mir sicher. Und du wirst nichts dagegen tun können.»
«Im Leben nicht.» Ben verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. «Dafür bin ich zu zynisch.»
«Vielleicht könnte ich etwas mit einer meiner Freundinnen arrangieren», bot ich an. Die Idee, ihn zu verkuppeln, gefiel mir, und ich war mir sicher, dass ich es sogar hinbekommen würde. «Wie wäre es mit Abby? Sie ist Single, sieht gut aus und ist sicher nicht allzu stressig.»
«Lieber Gott, bitte nicht», sagte Ben. «Das wäre die schlechteste Kombi der Geschichte.»
«Wie bitte?» Bens mangelndes Vertrauen in meine Einschätzung enttäuschte mich.
«Du kannst bitten, so lange du willst», schnaubte Ben. «Mein Beschluss ist endgültig. Ich fange nichts mit einer Tussi an, die bloß Wodka im Kopf hat und auf Stöckelschuhen herumstolziert. Wir hätten uns nichts zu sagen außer tschüs .»
«Gut zu wissen, welch hohe Meinung du von meinen Freundinnen hast», sagte ich gereizt. «Denkst du das auch von mir?»
«Nein, du bist anders.»
«Ach ja?»
«Du bist seltsam.»
«Bin ich nicht», rief ich. «Was soll an mir seltsam sein? Xavier, findest du mich auch seltsam?»
«Ganz ruhig, Babe», sagte Xavier und zwinkerte mir amüsiert zu. «Ich bin sicher, dass seltsam für Carter ein Kompliment ist.»
«Du bist selber seltsam», gab ich Ben zurück, auch wenn mir klar war, wie kindisch das
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