Hades
geschäftstüchtig war. Sie lachte nervös auf. «Es ist nur – zu dieser Jahreszeit kommen nicht besonders viele Leute her. Sind Sie geschäftlich in der Gegend?»
«Wir sind auf der Durchreise», erklärte Gabriel eilig.
«Wir möchten gerne die Abtei der Unbefleckten Maria besichtigen», sagte Ivy. «Kann man von hier aus dorthin laufen?»
Denise rümpfte die Nase. «Den alten Kasten?», fragte sie abschätzig. «Da kriege ich ja Gänsehaut. Niemand geht dort hin, schon lange nicht mehr. Weit ist es allerdings nicht, auf der anderen Seite des Highways, eine Schotterpiste entlang. Wegen der vielen Bäume sieht man die Abtei erst, wenn man direkt davorsteht.»
Während sie sprach, musterte sie Ivy neidisch. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich die Dinge für sie darstellen mussten: Ivys wallendes goldenes Haar reichte ihr halb den Rücken herunter und ihr Gesicht war trotz des ernsten Blicks strahlend und leuchtend. Ihre Haut wirkte durchscheinend, und wenn sie sprach, bewegten sich ihre gemeißelten Züge so gut wie gar nicht. Sie war wie eine unfassbare Illusion, von der man fürchtet, dass sie verschwindet, wenn man näher herangeht.
Denise wandte sich mit leichter Bitterkeit in der Stimme an Gabriel. «Möchten Sie für sich und Ihre Frau die Honeymoon-Suite?»
Ich hörte Molly auf dem grünen Vinylsofa schnauben. Vermutlich fragte sie sich, wie in diesem Motel wohl eine «Honeymoon-Suite» aussah. Schließlich war das Ganze eher eine Baracke am Highway mit dem Flair eines Gartenschuppens.
«Ehrlich gesagt sind wir nicht …», begann Gabriel, unterbrach sich aber gerade noch rechtzeitig, als er die plötzlich aufsteigende Hoffnung in Denise’ Augen wahrnahm. Das Letzte, was er brauchte, waren die ungeschickten Avancen einer weiteren vernarrten Frau, die er abwehren musste.
«Bloß keine Umstände», sagte er stattdessen. «Ein kleines Zimmer tut es auch.»
«Und ihr zwei?», fragte Denise und nickte Xavier und Molly zu.
«No way!», platzte Molly heraus. «Mit dem teile ich mir kein Zimmer.»
Denise sah Xavier mitleidig an. «Beziehungskrise?», fragte sie. «Keine Sorge, Süße, das sind die Hormone. Das geht vorbei.»
«Er ist der mit den Hormonen», antwortete Molly. «Hat eine Laune wie der Teufel persönlich.»
«Brauchen Sie irgendwelche Extras?», fragte Denise. «Handtücher, Shampoo, Internetzugang?»
«Wie wäre es mit einem Knebel?», murmelte Xavier, was ihm einen düsteren Blick von Molly einbrachte.
«Was für ein intelligenter Kommentar», erwiderte sie bissig.
«Ich werde meine Intelligenz nicht mit einem Mädchen diskutieren, das Afrika für ein Land hält», konterte Xavier.
«Aber es ist eins», beharrte Molly. «Wie Australien.»
«Das Wort, das du suchst, ist Kontinent .»
«Wenn ihr beiden nicht sofort aufhört …», warnte Ivy.
Denise schüttelte leicht amüsiert den Kopf. «Für kein Geld der Welt möchte ich noch einmal Teenager sein.» Ihr Versuch, die Stimmung zu heben, wurde von beiden Seiten mit Todesverachtung gestraft. «Ja, dann genießen Sie Ihren Aufenthalt», stammelte sie schließlich.
Gabriel beugte sich vor und nahm die Schlüssel und seine Kreditkarte entgegen, die Denise ihm reichte. Dabei streifte er aus Versehen mit den Fingern ihre Hand, worauf ihr Körper sofort reagierte. Sie lehnte sich unwillkürlich in seine Richtung und hielt sich die Hand vor den Mund. Dann sackte sie am Tresen zusammen, als ob sie der winzige Tropfen berauschender Energie völlig ausgelaugt hatte. Sie sah nach oben in seine Augen, die aussahen wie geschmolzenes Silber, und begann zu zittern. Gabriel fuhr sich durch das weißblonde Haar, das ihm ins Gesicht gefallen war, und trat einen Schritt zurück. «Danke», sagte er höflich und schritt aus der Lobby. Ivy glitt neben ihm her wie eine Fee, und Xavier und Molly folgten wortlos.
Zu dem Motel gehörte ein Restaurant, und weil es schon fast Abend war, begaben sich alle automatisch in diese Richtung. Außer einem einsamen Trucker in der Ecke war niemand zu sehen, nur eine kaugummikauende Bedienung, die gelangweilt Tische abwischte. Als die Tür ging und Gabriel und die anderen eintraten, sahen beide überrascht auf. Der Trucker zeigte kein Interesse, offenbar war er zu erschöpft für einen zweiten Blick, wohingegen die Bedienung erst geschockt und dann genervt aussah, vermutlich weil sie vier weitere Gäste bedienen musste. Wie Denise schien auch sie gewöhnlich Zeit zu haben, sich die Nägel zu machen.
Ich sah
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