Hades
befürchtete, man würde ihn für nicht richtig im Kopf halten. «Ich war gerade wieder auf dem Weg zurück in die Stadt, als ich dort vorbeikam. Da hörte ich einen Schrei – allerdings klang es nicht wie der Schrei eines Menschen. Es war eher ein Heulen, wie von einem wilden Tier. Darum bin ich ausgestiegen und habe mich gefragt, ob ich den Sheriff anrufen sollte. Und da habe ich gesehen, dass alle Fenster im oberen Stock zugenagelt waren und an der Veranda waren Kratzer, als ob etwas versucht hatte, hineinzukommen … oder heraus.»
Ivy drehte sich um und sah Gabriel an. «Er hätte uns ruhig warnen können», sagte sie leise, und ich wusste, dass sie Michael meinte. «Auf so etwas sind wir nicht vorbereitet.» Ihr Blick fiel auf Molly, die gerade Lipgloss auftrug. Das Autofenster diente ihr als Spiegel.
«Tut mir leid, Ma’am, ich wollte Sie nicht beunruhigen», fügte Earl nach einer Weile hinzu. «Vielleicht bin ich auch nur ein alter Depp, der den Verstand verliert.»
«Nein, ich bin froh, dass Sie uns alles erzählt haben», sagte Ivy. «Jetzt wissen wir wenigstens, was uns erwartet.»
«Eine Frage noch», sagte Gabriel ernst. «Die Schwester, die in der Gewitternacht krank geworden ist … wie heißt sie?»
«Ich glaube, dass es Schwester Mary Clare ist», sagte Earl feierlich. «So eine Schande – sie war wirklich nett.»
Der Rest der Fahrt verlief stiller. Gabriel hatte den Weg zum Motel eingeschlagen. Selbst ich wusste, dass sie nicht einfach mit lodernden Waffen in die Abtei hineinplatzen konnten, sondern dass sie sich eine Strategie überlegen mussten, einen Plan. Für Ivy und Gabriel war es klar, wer hinter den Geschehnissen im Kloster steckte, Molly und Xavier aber stand die Verwirrung im Gesicht geschrieben.
Das Motel hieß Easy Stay Inn und lag direkt hinter der Autobahn, zu weit vom nächsten Ort entfernt, um viele Touristen anzuziehen. Nicht zuletzt deshalb war es in ziemlich üblem Zustand und hätte eine Renovierung dringend nötig gehabt. Der Parkplatz war leer, und die Leuchtreklame blitzte nur alle paar Minuten auf. Den Rest der Zeit sendete sie ein jaulendes, statisches Summen aus. Die braunen Ziegel waren eigentlich weiß gestrichen, aber durch Wind und Wetter war die Farbe im Laufe der Zeit abgeblättert und verwittert. Drinnen war es nur unmerklich besser, die Wände waren dunkel vertäfelt, und auf dem Boden lag ein brauner Teppich. In einer Ecke plärrte der Fernseher, und die Frau hinter der Rezeption lackierte sich beim Fernsehen die Nägel. Die Ankunft der neuen Gäste überraschte sie so sehr, dass sie Nagellack verschüttete, doch sie erholte sich schnell wieder von dem Schock und stand auf, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Sie trug eine verblichene Jeans und ein Tanktop und hatte einen blumengeschmückten Haarreifen auf dem Kopf, der ihre roten Locken zurückhielt. Aus der Nähe wirkte sie gar nicht mehr so jung, wie ich zunächst gedacht hatte. Ein schief hängendes Namensschild sagte uns, dass sie Denise hieß.
«Kann ich Ihnen helfen?», fragte sie unsicher. Offenbar nahm sie an, dass sie sich verfahren hatten und nach dem Weg fragen wollten. Meine Geschwister traten näher an sie heran. Mir war bewusst, wie sie wirken mussten: wie ein Traumpaar, zu perfekt, um wahr zu sein. Und ich musste zugeben, dass alle vier in dieser Umgebung ziemlich fehl am Platz wirkten, wie sie da dicht zusammengedrängt standen, wie eine Einheit, eine Barrikade gegen den Rest der Welt. Mir fiel auf, dass sich Xavier immer mehr so verhielt, als wäre er einer von uns. Früher war er in Gesellschaft entspannter, fand leichter Kontakt, lächelte charmant, alles ganz selbstverständlich. Jetzt wirkte er gleichgültig und reserviert und runzelte immer wieder die Augenbrauen, als ob ihn etwas verwirrte, was niemand außer ihm sehen konnte. Er und meine Familie hatten sich große Mühe gegeben, wie normale Reisende auszusehen: Gabriel und Xavier trugen dunkle Jeans und schwarze T-Shirts und Ivy ihren beigefarbenen Trenchcoat. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hatten alle dunkle Sonnenbrillen aufgesetzt, was leider den gegenteiligen Effekt hatte. Die Frau hinter der Theke starrte sie an, als würde sie einer Gruppe von Filmstars gegenüberstehen.
«Wir benötigen zwei Doppelzimmer für eine Nacht», sagte Gabriel steif und reichte der Frau eine glänzende goldene Kreditkarte.
«Hier bei uns?», fragte Denise ungläubig, als ihr auch schon klar wurde, dass das nicht gerade
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