Hades
spüren konnte, dass ihre Geduld am seidenen Faden hing. Molly rutschte herum und schlug mir dabei mit dem Ellenbogen direkt in die Rippen. Es fühlte sich unangenehm an, wie ein Hitzeschild, das sich an meiner Seite ausbreitete. Vermutlich wurde das durch ihre Lebenskräfte verursacht, die mit meiner geistigen Form zusammenstießen. Instinktiv rutschte ich ein Stück von ihr weg.
«Bäh, ich wusste, ich hätte auf der Fahrt nicht so viel Schokolade essen sollen», klagte Molly und rieb sich den Bauch. Sie trug eine pinkfarbene Jogginghose, kombiniert mit einem passenden bauchfreien Kapuzenpulli. Ihre rotbraunen Locken hatte sie zu einem hohen Zopf zusammengebunden, und vor ihr unter dem Sitz stand eine pinkfarbene Reisetasche. Ich musste bei dem Gedanken lächeln, dass Molly bestimmt der Meinung war, dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein. Niemand kommentierte, was sie gesagt hatte. Ich vermutete, dass sie alle keine Worte für das Thema Schokolade übrig hatten, weil sie an nichts anderes als an dämonische Entführungen und apokalyptische Zeichen denken konnten. Während der Chevy den Highway entlangraste, legte Xavier die Stirn ans Fenster. Er kam mir kribbelig vor, als ob es ihn nervös machte, untätig im Auto herumzusitzen, anstatt irgendetwas zu unternehmen.
Ich sah mit ihm hinaus und beobachtete, wie die Landschaft von Georgia vorbeiflog. Wie schön es hier war! Fast, als ob die Erde hier ein Eigenleben hatte. Vor uns breiteten sich langgezogene Waldgebiete aus wie eine Decke. Leuchtend rote Ahornbäume, dick und kräftig, bildeten Dächer, wo sich die Zweige berührten. Im samtigen Grün entdeckte ich Seidenpflanzen und zarte Schmetterlingsblütler. Als wir weiterfuhren, verwandelte sich die Welt neben der Straße in ein Meer aus Ahorn. Der Himmel über uns war hell und klar, nur von wenigen Wölkchen durchbrochen, die faul dahintrieben wie Seerosen in einem klaren blauen See. Hier auf dem Land erschien alles einfacher, und ich fühlte mich der Natur näher. Irgendwie erinnerte es mich auch an mein altes Zuhause im Königreich, brachte mich ihm so nahe wie schon lange nicht mehr. Ich seufzte tief auf. Xavier, der noch immer am Fenster gelehnt hatte, saß plötzlich aufrecht und starrte Molly an.
«Was?», fragte sie herausfordernd, als sie seinen Blick bemerkte.
«Bitte lass das», sagte Xavier.
«Was habe ich denn gemacht?»
«Du hast mir ins Ohr geatmet.»
Molly wirkte beleidigt. «Für was für einen Freak hältst du mich eigentlich? Warum sollte ich dir ins Ohr pusten?»
«Ich sagte atmen.»
«Oh, darf ich jetzt nicht einmal mehr atmen?»
«Das habe ich nicht gesagt.»
«Dir ist schon klar, dass ich ersticke, wenn ich nicht atme?»
Xavier beugte sich nach vorn. «Darf ich bitte fahren?», flehte er. «Dann kann jemand anderes hier hinten sitzen und sich foltern lassen.»
«Ich habe überhaupt nichts gesagt», protestierte Molly wütend.
«Jetzt schon», stöhnte Xavier.
«Mit dem Flugzeug wären wir längst da.»
«Bei deinem Gelabere hätte der Pilot schon nach fünf Minuten eine Bruchlandung gemacht.»
«Das wäre immer noch sicherer, als in dieser alten Schüssel herumzugurken.»
«Hey!» Das war für Xavier die größte Beleidigung – nicht einmal ein Angriff auf seine Männlichkeit wäre schlimmer gewesen. Wenn jemand es auf sein Auto abgesehen hatte, konnte er sich richtig aufregen. «Das ist ein Oldtimer!»
«Vielleicht, aber hauptsächlich ein Haufen Schrott. Warum haben wir bloß nicht den Jeep genommen?»
Das hatte ich mich allerdings auch schon gefragt. Vermutlich war es Xaviers Idee gewesen, mit dem Chevy zu fahren. Vielleicht fühlte er sich mir dadurch näher. Mit dem Auto verbanden uns viele gemeinsame Erinnerungen, die er wohl hatte mitnehmen wollen, jetzt, wo er die Stadt und sein altes Leben hinter sich ließ. Das aber würde er Molly garantiert nicht auf die Nase binden. Stattdessen sagte er: «Du würdest einen Oldtimer nicht mal erkennen, wenn man ihn dir direkt vor die Nase setzen würde.»
«Idiot», murmelte sie.
«Selber.»
Ivy wirbelte herum und warf beiden einen Blick zu. «Wie kindisch seid ihr eigentlich? Hört sofort auf mit diesen Streitereien!»
Molly lächelte verlegen, wohingegen Xavier laut aufseufzte und wieder in seinem Sitz versank. Bis Gabriel ein paar Minuten später in eine Tankstelle einfuhr, schwiegen alle. Xavier stieg wie der Blitz aus und verschwand im Gebäude, kaum dass Gabriel den Motor abgestellt hatte. Ich überlegte ihm zu
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