Hades
gekonnt hätte, hätte ich in diesem Moment losgeheult. Dies waren meine Worte. Ich hatte sie in jener Nacht am Strand zu Xavier gesagt, als ich voll Vertrauen von der Klippe gesprungen war, meine Flügel vom Wind hatte öffnen lassen und meine wahre Identität offenbart hatte. Als ich Xavier davon überzeugt hatte, dass dies kein geschmackloser Trick war, war er voller Fragen gewesen. Er wollte wissen, warum ich gekommen war, welche Absichten ich hatte und ob es Gott wirklich gab. Und ich hatte ihm gesagt: Manche Dinge können Menschen nicht begreifen. Xavier hatte es nicht vergessen.
Ich erinnerte mich an diese Nacht, als wäre es gestern gewesen. Wenn ich die Augen schloss, war alles wieder da, kam zurück wie eine Welle. Ich sah die Teenager in Gruppen um das Lagerfeuer herumsitzen, die Glut flog auf wie glitzernde Juwelen, bis sie im Sand versank. Ich erinnerte mich an den salzigen Geruch des Meeres, das Gefühl von Xaviers blauem Sweatshirt an meinen Fingern, und ich wusste genau, wie die Klippen ausgesehen hatten, wie Puzzleteile vor einem blauen Himmel. Ich erinnerte mich an den Moment, an dem ich meinen Körper in die Luft gehoben und die Schwerkraft hinter mir gelassen hatte. Diese Nacht war der Beginn von allem gewesen. Xavier hatte mich in seinem Leben akzeptiert, und ich war nicht länger das Mädchen hinter der Glasscheibe, das einer Welt zuschaute, zu der es nie Zugang haben konnte. Die Erinnerung machte mich fast krank vor Sehnsucht. Damals hatten wir es für eine riesige Herausforderung gehalten, Gabriel und Ivy gegenüberzustehen, nachdem ich unser Geheimnis verraten hatte. Wenn wir damals geahnt hätten, was alles vor uns lag!
Der Schlüssel klapperte im Schloss, und das Geräusch brachte mich zurück in die Gegenwart. Xaviers Worte hatten Schwester Faith ermutigt, uns zu offenbaren, was hinter der Tür lag. Alle hielten den Atem an, als der Gestank von vergorenem Obst stärker wurde und ein reißendes Knurren durch den Raum flog. Als sich die Tür ganz langsam öffnete, schien die Zeit stillzustehen.
Das Zimmer wirkte ganz normal, spärlich möbliert und nur wenig größer als die würfelförmigen Zellen im zweiten Stock. Was uns aber zusammengekrümmt darin erwartete, war alles andere als normal.
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26
Die Offenbarung des Bösen
Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine ganz normale Frau; angespannt und wachsam zwar, weil plötzlich Fremde im Raum standen, aber trotzdem eine Frau. Sie trug ein Baumwollhemd, das ihr bis zu den Knien reichte und hübsch ausgesehen hätte, wäre es nicht zerrissen, rußgeschwärzt und voller Blut gewesen. Sie kauerte am Kamin, grabschte nach Ruß und verteilte ihn auf dem blanken Holzboden. Die langen schwarzen Haare flogen ihr wild um die Schultern, und ihre Knie waren so aufgeschürft, als hätte sie sich selbst über den Boden geschleift. Wenn ich körperlich anwesend gewesen wäre, hätte ich instinktiv versucht, ihr auf die Füße zu helfen und sie zu trösten. Gabriel und Ivy aber rührten sich nicht. Als ich mir die Augen der Nonne genauer betrachtete, begriff ich, warum. Es waren nicht die Augen von Schwester Mary Clare. Als Molly das bemerkte, stieß sie einen lauten Schrei aus und drängte sich hinter Xavier, dessen Gesicht gemischte Gefühle ausdrückte. Sie wechselten von Mitleid über Unglaube zu Abscheu und wieder zurück, und das in Sekunden. So etwas hatte er noch nie erlebt, und es war kein Wunder, dass er nicht sofort wusste, wie er damit umgehen sollte.
Die junge Nonne, die höchstens zwanzig Jahre alt sein konnte, kroch über den Boden. Sie erinnerte mehr an ein Tier als an einen Menschen. Ihr Gesicht war grotesk verzerrt, die Augen schwarz und geweitet. Sie zwinkerte nicht. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und geschwollen, und man konnte sehen, wo ihre Zähne das Fleisch durchbohrt hatten. Auf ihre Arme und Beine waren mehrere Zeichen gebrannt. Das Zimmer war in keinem besseren Zustand. Die Matratze und die Betttücher waren in Fetzen gerissen und Boden und Decke mit Kratzern übersät. An der Wand standen Wörter in einer alten Schrift, die ich nicht entziffern konnte. Ich fragte mich einen Moment, warum die Wände mit Kaffee beschmiert waren, bis ich erkannte, dass es gar kein Kaffee war, sondern Blut. Der Dämon legte den Kopf schief wie ein neugieriger Hund, sein Blick ruhte auf den Besuchern. Einen Moment lang herrschte Totenstille, bis er erneut zu knurren und mit den Zähnen zu knirschen begann. Sein Kopf flog
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