Hadschi Halef Omar im Wilden Westen
Manne und uns war weit und breit niemand zu sehen, wir mußten also keinen Hinterhalt fürchten. Ohne uns auszutauschen, trieb Winnetou sein Tier zu leichtem Gang, und Hirtreiter und ich folgten.
Von unserem Anblick oder dem Getrappel unserer Pferde ließ der Sänger sich keineswegs stören; unbeirrbar setzte er seinen unsinnigen Marsch fort. Allmählich aber litt sein Liedchen, welches
von klar unterscheidbaren Noten immer mehr in ein nur noch tiefes, ungleichmäßiges Brummen herabfiel – dieser Mensch mußte dem Verdursten, auch dem Verhungern nahe sein. Ich rief ihn an:
»Bester Sir! Euer Yankee Doodle Dandy mag sich gedulden, bis Ihr uns sagt, was Ihr hier treibt. Wir beobachten Euch schon eine ganze Weile, werden aber aus Eurem Treiben nicht klug.«
Keine Antwort.
»Sir?« vergewisserte ich mich.
Da verstummte das Gebrumm, und der torkelnde Mann blieb stehen. Horchend wandte er sich nach uns.
Ich ahnte, daß es besser sein würde, wenn wenigstens ich vom Pferde stieg, und tat dies auch. In diesem Augenblick brach der Fremde zusammen. Ich zupfte meine Wasserflasche vom Sattel, eilte zu dem Manne, hob ihn an und gab ihm zu trinken. Wie ein Kleinkind sog er sich mit seinen aufgerissenen Lippen am Ausguß fest.
Als die Flasche leergetrunken war, sprang der Schrat, wundersam erquickt, in die Höhe. Aber was war das? Als müßte er mich, der ich genau vor ihm stand, erst suchen, warf er prüfend seinen Kopf hin und her. Da begriff ich, daß er ganz oder nahezu blind war.
Ganz nahe stellte ich mich vor ihn. Vielleicht konnte er nun mein Gesicht erkennen? In dem seinen hatte das Sonnenlicht die schlimmsten Verbrennungen angerichtet. In Fetzen hatte die Haut sich gelöst, ebenso auf dem rot flammenden Kopf, wo der letzte Haarrest schlohweiß gebleicht war. Auch die Kleidung hing in Stücken. Sie mochte einmal die eines Offiziellen, eines Beamten gewesen sein; jetzt starrte sie vor Dreck, war durchlöchert und von oben bis unten mit Disteln und Dornen übersät. Dennoch verlieh dieser Aufzug seinem Besitzer immer noch einen Habitus, der mich ihn, ohne zu überlegen, mit ausgesuchter Höflichkeit begegnen ließ.
»Sir, was fällt Euch ein, ohne Kopfbedeckung durch die Prärie
zu laufen? Die Sonne hat Euch anscheinend blind gemacht. Noch ein wenig mehr, und Ihr wäret tot.«
»Tot, ich?« kicherte der Alte. »Das bin ich längst!«
»Sagt, wo habt Ihr Euer Pferd? Habt Ihr es verloren, wurde es Euch gestohlen? Ihr könnt unmöglich zu Fuß hierhergekommen sein.«
Das Kichern wiederholte sich. » Unmöglich, was für ein Wort! Nicht ich habe das Pferd, das Pferd hat mich verloren. Der dumme Gaul ist mit mir durchgegangen, stob und eilte mit mir eine halbe Nacht hindurch. Irgendwann warf er mich ab, und ich war allein, allein, allein! Was tut man in einer solchen Lage? Man marschiert! Aber wer seid denn Ihr, Mister? Habt Ihr Euch ebenfalls verirrt? Wenigstens habt Ihr Wasser!«
Wieder suchte das rotunterlaufene Augenpaar nach mir. Da kam mir ein Verdacht: »Entschuldigt, Sir, könnt Ihr überhaupt mein Gesicht erkennen?«
Der Blinde neigte sich ungefähr in meine Richtung, verfehlte mich aber um zwei Handbreit. »Schade! Wie Ihr ausseht, kann ich nicht erkennen. Aber daß Ihr ein Herz habt, spüre ich. Seid Ihr allein? Es sind Schatten hinter Euch. Ich stelle mich vor: Truman C. Everts, Steuerbeauftragter von Montana, Mitglied der Washburn-Expedition. Ich befinde mich auf dem Weg zum Yellowstone!«
»Was?« rief ich. »Ihr gehört zu Mister Washburns Leuten?«
»Allerdings!«
»Ach, Mister Everts, Ihr seid das! Noch vor ein paar Tagen, in Cheyenne, da saßt Ihr bei Mister Faffle zu Tische – ich bin es, Old Shatterhand! Mit mir befinden sich Mister Hirtreiter und Winnetou.«
»Winne – – – !«
Bei diesem Namen verschlug es dem Alten die Sprache.
»Daß Ihr überhaupt noch lebt«, wunderte ich mich. »Die Indianer sind das eine, aber das andere sind wilde Tiere, nicht zu reden von den unzähligen Entbehrungen. Erzählt, Ihr müßt Schreckliches durchgemacht haben.«
»Richtig, Mister«, berappelte sich Everts. »Die Tage waren entsetzlich, und erst die Nächte! Meine Brille ging bei dem Teufelsritt verloren, ich kann kaum noch sehen. Um vor Mensch und Tier sicher zu sein, kletterte ich mitunter auf Bäume, ich, ein Halbblinder!«
»Bäume, gut und schön, aber was hättet Ihr getan, wenn ein Grizzly gekommen wäre?«
»Ein Grizzly? Ich befand mich doch auf einem Baume! Wißt Ihr nicht, wie
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