Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Titel: Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Sträter
Vom Netzwerk:
ging mindestens eine Minute so; dann verstummte die Musik abrupt und ich vernahm seine Stimme.
    »Es wäre nicht gut, jetzt raus zu kommen«, flüsterte er, »wir k lich nicht.« Er schien dicht hinter der Tür zu stehen. Beim Klang seiner Stimme wurde mir anders; es war ein amüsiertes, fast gesungenes Raunen.
    »Fühlst du dich nicht okay?«, fragte ich, wobei ich hoffte, me i ne Stimme würde wie die eines Hausherren klingen. Tat sie aber nicht. Ich bin sicher, sie klang ängstlich.
    »Im Gegenteil«, gluckste er. »Hab mich selten besser gefühlt. Es wäre trotzdem nicht gut. Bin ein bisschen … überdreht. Geht mir gut. Zuuuu guuuut.«
    »Kann ich irgendetwas tun?« Ich versuchte, seine Betonung zu ignorieren, aber es ging nicht.
    Er hatte zwischen den Sätzen zu hecheln begonnen.
    Ich bin mir noch immer ziemlich sicher, dass er »nein« sagen wollte; es klang allerdings eher wie norrr . Dann hörte ich, wie er sich von der Tür weg bewegte.
    Das Quietschen der Fensterscharniere war zu vernehmen, g e folgt vom knarrenden Protest der Fensterbank, auf die er stieg.
    Eine Sekunde später war ich allein in der Wohnung.
    Ich merkte es, weil der Geruch fast augenblicklich schwächer wurde.
    Nur zu gern hätte ich mir eingebildet, dass es an dem geöffn e ten Fenster lag, das er natürlich von a ußen nicht schließen konnte, aber ich war mir sicher, dass er den Gestank mitnahm, wohin er auch ging.
    In den paar Tagen, seit er eingezogen war, hatte ich mir nach den ersten Vorfällen angewöhnt, nicht zu weit zu denken. Ich wollte mich nicht eingehend mit den absurden Möglichkeiten beschäftigen, die mir als logischer Schluss blieben.
    Nun, während ich langsam in die Hocke ging, ließen sich diese Gedanken nicht mehr bremsen; eine Folgerung reihte sich an die nächste, und in scheinbarer Schallgeschwindigkeit formte sich der Gesamteindruck zu einem finsteren Gemälde.
    Ich konnte mir nicht länger vorgaukeln, das Opfer meiner durch Eimer voller Tiergedärm angeregten Fantasie zu sein.
    Beim besten Willen nicht.
    David war durchgedreht, na klar, ein Hardrock-Freak ohne Beispiel, ein Stereoanlagendieb und ungepflegter Sonderling. Aber er war noch mehr.

9
    Ich gab ziemlich schnell auf, an Daves Tür zu klopfen.
    Morgens zog ich mich einfach an, ohne das anklagende, bleiche Quadrat auf dem Fußboden zu beachten, und zog die Tür hi n ter mir zu.
    Mit Bellys Tod hatte auch die Reifenschlitzerei aufgehört. Wenn ich genauer darüber nachdachte, gab es überhaupt keine Form des Vandalismus mehr. Mein Fahrrad stand wieder dra u ßen. Jeden morgen lehnte es unversehrt und prall an unseren Mülltonnen, aber es gelang mir nich t, mich deswegen gut zu fühlen.
    Die Gegend war ruhiger geworden. Leerer.
    Nirgendwo sah ich mehr wen herumlungern. Keine leeren Bierflaschen neben unseren Bänken am Spielplatz, keine Bet t ler, keinen noch so unwichtigen Dealer.
    Abends, wenn ich unser Haus erreichte, verschwendete ich keinen Blick an Daves Fenster, das mit Teppichklebeband und etwas Plastikfolie repariert war, und in der Wohnung lauschte ich nicht auf Geräusche.
    Ich hatte einige von diesen Duftbäumen aufgehängt; Zitrone, Kokosnuss, sogar »Weihnachtstraum«, aber sie überdeckten den Geruch nicht besonders überzeugend. Er war sogar noch schlimmer geworden.
    Was anfangs noch wie ein Rudel ersoffener Bobtails geduftet hatte, war jetzt durch eine neue Komponente gesteigert wo r den, die mich stark an den süßlich-schweren Geruch meiner Arbeitsstelle erinnerte.
    David selbst bekam ich nicht zu Gesicht: ich war auch nicht scharf drauf.
    Seit kurzem konzentrierte ich meine Energie nur auf zwei Di n ge:
    Erstens : V om Fenster meines Zimmers aus den Hof, die Gar a genanlage nebst Spielplatz und den Teil der Straße zu beobac h ten, der einzusehen war. Ich wollte wissen, wo all die Me n schen waren, die hier stets herumgehangen hatten.
    Abschaum, sicher. Aber dass sie weg waren, beunruhigte mich unglaublich. Ich war wie ein Klaustrophobiepatient auf U m kehrschub: je leerer es wurde, umso nervöser wurde ich.
    Zweitens: Trotz meiner desolaten Finanzlage irgend etwas au f zutreiben, das scharfkantig war und aus massivem Silber b e stand.
    Ich hatte viele Filme gesehen . Silber war gut.

10
    Das Problem mit dem Silber löste sich sehr schnell: Ich fand im Keller einen antiquiert aussehenden Tortenheber. Er hatte eine Prägung, die auf das gewünschte Material schließen ließ, und ich schliff ihn auf der Arbeit scharf an.
    Zuhause hockte

Weitere Kostenlose Bücher