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Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Titel: Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Sträter
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kurz vor Neujahr gest orben, und es hatte sich durch n ichts abgezeichnet.
    Elvira mochte nicht den Statistiken glauben, die mit der E r barmungslosigkeit amtlicher Papiere besagten, dass Frauen nun mal älter werden als Männer – auch als ihre eigenen.
    Er war so vital gewesen, obwohl sie dieses Wort nicht mochte.
    Vital: Warum kippten alle positiven Begriffe wie »fit«, »kernig« und »schwungvoll« ins Lateinische, sobald man alt wurde?
    »Vital« war etwas, das auf einer Flasche mit Stärkungsmittel stehen sollte; es war nichts, dessen Beigeschmack nach Kam p fer sie mit Karl-Heinz verbinden wollte.
    Der Boden war gefroren gewesen, als sie ihn beerdigt hatte n , aber sie glaubte nicht, dass ein Sommertag etwas geändert hä t te. Zwitschernde Vögel und blühende Maiglöckchen im Park oder eben ein betonharter, ausgebaggerter Boden, der schmu t zigen Schnee wie Schimmel trug: Karl-Heinz war tot.
     
    Sie hatte sich selbst wie gefroren gefühlt, als sie nach Hause gekommen war.
    Die alten Platten von Fred Astaire und Glenn Miller harrten brav in ihren Halterungen aus gebogenem Draht und furnierter Eiche, und ihr war klar, dass sie nie wieder eine von ihnen au f legen würde.
    Furnierte Eiche.
    Sie weinte wieder, und die Tränen bahnten sich ihren Weg ihre Wangen hinab, tropften auf die schwarze Bluse und ihre Hä n de . Hände, die nie wieder seine halten würden, wenn sie tan z ten.
    Dann weinte sie noch mehr.
    Sie hatte bis tief in die Nacht am Küchentisch gesessen und das feine Muster auf der Platte beobachtet, bis sie darin versank . D ie Uhr in der Diele schlug volltönend die Stunden.
    Man sollte nicht an Dingen wie diesen sparen, hatte er gesagt und auf das massive Modell der Pendeluhr gepocht, die damals, 1962, ein kleines Vermögen gekostet hatte.
    Jetzt wusste sie , warum: Die Uhr hatte immer geschlagen, i m mer, in guten wie in schlechten Tagen. Die guten waren nun vorüber, und mit der Unbestechlichkeit eines vertrockneten Bürokraten schlug sie nun Stunde um Stunde, zerteilte die Nacht und alle, die kommen mochten, in kleine, bittere Häp p chen.
    Sie schaltete den Fernseher ein, ein gutes Modell, groß, das Karl-Heinz wegen ihrer immer schlechter werdenden Augen angeschafft hatte.
    Ein Sender zeigte Bilder der Erde, vom All aus gesehen.
    Demnach sah es nicht so aus, als ob es einen Himmel gab, und sie schaltete stumpf weiter, ohne die Fernbedienung zu benu t zen.
    »Wir haben die letzten dreißig Jahre einen Knopf am Gerät gedrückt. Ich sehe keinen Anlass, jetzt damit aufzuhören und auf diesem Ding hier herum zu spielen«, hatte sie gesagt und dröhnendes Gelächter von ihrem Mann geerntet, der ungläubig in der Bewegung des Flaschenöffnens erstarrt war und den Kopf geschüttelt hatte.
    Ein weiterer Kanal.
    »Diese Perlenkette von Diamonique ist derartig …«
    Ein weiterer.
    Sie schaute in das Gesicht ihres Mannes, der, die Lippen g e schürzt, Schulter an Schulter mit einem Flötisten im farblosen Strahlen einer Bühnenbeleuchtung stand und musizierte.
    Sie rieb sich die Augen und stöhnte auf; der Verstand musste schwach sein, die Wahrnehmung ein Winzling gegen den schwarzen Goliath Trauer, und sie rieb und rieb, und dann kam Mr. Goodman.
     
    In der darauf folgenden Nacht fand sie ihn nicht.
    Ein en Tag lang auf dem Sofa, ohne Essen und mit brennenden Augen hatte sie versucht, klar zu denken, und gelegentlich hatte es funktioniert.
    Sie wusste, dass er tot war, natürlich . Sie hatte die leberfleck i gen Hände auf der Bettdecke gesehen, das behutsame Kop f schütteln des Notarztes, die Grube, den Kranz.
    Trotzdem hatte er Klarinette gespielt . D ieser konzentrierte Ausdruck, den er nur hatte, wenn er sich in etwas verbiss – zum Beispiel, die Nadel an dem alten Dual-Plattenspieler au s zutauschen –; und der Ehering, den er an der falschen Hand trug, weil die Linke stets geschwollen war: Ihr verstorbener Gatte hatte in Goodmans Diensten aufgespielt.
    Sollte sie sich irren – sollte ihr Geist sich vernebelt haben – war das in Ordnung für sie, aber sie suchte ihn trotzdem jede Nacht.
    Ihr war etwas aufgefallen, das ihr Hoffung machte: als Karl-Heinz verstorben war, hatte der Fernseher »In the Mood« g e spielt, und obwohl das Bild vom Schlafzimmer aus nicht zu sehen gewesen war, musste es ein alter Film gewesen sein . E i ner mit Glenn Miller.
    Null Uhr zwanzig war er offiziell für tot erklärt worden.
    Jetzt war es eins, und sie drückte und drückte.
    »Schätze, du lässt die

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