Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
liegt. Den Finger konnten sie nicht wieder annähen, so viel hat der Arzt mir aber gesagt.«
Uwe atmete scharf ein. »Diese verfluchte Hexe! Wie kann man so etwas nur tun? Die muss doch wohl völlig übergeschnappt sein.«
Sebastian schwieg einen Moment, sah nach unten und knetete seine Finger, bevor er antwortete. »Vielleicht ist sie ja wirklich eine.«
»Eine was?«
»Eine Hexe!«
»Ganz bestimmt ist sie eine. Und wenn ich sie zu fassen bekomme, verbrenne ich sie eigenhändig auf dem Scheiterhaufen.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Ich meine es ernst. Du hast es ja nicht sehen können … aber diese Zeichnungen auf dem Tisch, wie bei uns nach jener Nacht. Und die Schale mit Blut, in der Saskias Finger lag … Was hat das zu bedeuten?«
»Vielleicht hält sie sich ja für eine Hexe«, sagte Uwe. »Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass diese Rituale irgendeine Auswirkung haben – außer auf ihren kranken Verstand natürlich.«
Sebastian sah Uwe an. Wenn sein Blick seinen Gemütszustand spiegelte, dann sah Uwe jetzt Verzweiflung und Selbstzerfleischung, genau das spielte sich nämlich in seinem Inneren ab, seitdem er Ellie Brock hatte entkommen lassen. Alles, was jetzt noch passieren würde, ging auf seine Kappe, lag in seiner Verantwortung, denn er hätte die Sache dort in dem Haus beenden können. Er hatte es nicht getan, und damit musste er jetzt leben. Natürlich hatte er
es Derwitz gegenüber verschwiegen, hatte behauptet, sie sei längst weg gewesen, als er aus dem Keller in die Wohnung gestürmt war. Wer wollte ihm das Gegenteil beweisen? Dass aber das Wissen um diese Lüge, um seine Schwäche und Unzulänglichkeit ihn derart quälen würde, hatte Sebastian nicht erwartet. Er musste mit jemandem darüber sprechen, und Uwe war der Einzige, der zur Verfügung stand. Außerdem vertraute er ihm.
»Was ist los?«, fragte Uwe und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Vielleicht auch auf meinen«, sagte Sebastian.
Uwes Augenbrauen zogen sich zusammen. Er drückte sich noch ein Stück hoch. »Was sagst du da?«
»Diese Rituale … Vielleicht hat Ellie Brock damit ja auch Einfluss auf meinen Verstand.«
»Das musst du mir erklären. Wie kommst du darauf?«
Erneut sah Sebastian zu Boden, knetete seine Finger und sah auch nicht auf, als er wieder zu sprechen begann. »Sie … sie war nicht weg, vorhin, in dem Haus. Sie stand oben in der Küche … Ich hatte deine Waffe, und es waren nur zwei Meter. Verstehst du, zwei Meter! Ich hätte sie nicht verfehlen können.«
»Du hattest Ellie Brock vor dem Lauf?«
Sebastian nickte. »Sie hat sich umgedreht und … es ist schwer zu beschreiben, sie … sie war nicht das Monster, das ich erwartet hatte. Sie hat gelächelt, sie war wirklich gerührt, mich zu sehen. Dort in der Küche standen sich Mutter und Sohn gegenüber, da war plötzlich keine Rache und kein Hass mehr. Nur ich und sie. Und ich konnte den Finger einfach nicht krümmen, ich wollte es auch gar nicht. Sie hat gelächelt … die Schale mit dem Blut und Saskias Finger darin stand auf dem Tisch … aber sie hat
gelächelt, hat gewusst, dass ich niemals auf sie schießen würde.«
Uwe atmete hörbar aus. Sein dicker Bauch hob und senkte sich unter der weißen Klinikdecke. Sebastian nahm es aus den Augenwinkeln wahr, sah ihn aber nicht an. Das Ganze war schon unangenehm genug, er musste nicht auch noch seine Tränen offenbaren.
»Sie hat Edgar getötet, diese alten Leute, Anna liegt im Koma … Stefanie … Saskia … Taifun, sie hat Leid und Tod in mein Leben gebracht, aber in diesen paar Sekunden spielte das alles keine Rolle mehr. Ich lebe nur, weil es sie gibt. Sie ist meine Mutter.«
Uwe legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter, tätschelte sie. »Niemand macht dir einen Vorwurf.«
»Doch! Ich mache mir Vorwürfe! Sie läuft noch immer da draußen herum, und ich hätte es verhindern können! Und solange sie lebt, wird sie nicht aufgeben, das weiß ich. Sie wird es wieder und wieder versuchen. Wenn ich sie getötet hätte, wäre es vorbei gewesen …«
»Hör auf, dich zu quälen! Du konntest doch gar nicht anders handeln. Du hast noch nie eine Waffe in der Hand gehalten, du bist kein Mörder, du kannst überhaupt nicht auf einen Menschen schießen.«
»Vielleicht nicht. Vielleicht hat sie mich aber auch längst unter Kontrolle.«
Das war der schlimmste, furchterregendste Gedanke von allen. Sebastian wollte sich lieber überhaupt nicht damit beschäftigen, doch dieser Gedanke war wie ein
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