Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Parasit, der sich in seinem Fleisch eingenistet hatte. Und er war auch nicht von der Hand zu weisen. Was war schließlich mit den merkwürdigen Anfällen in der letzten Zeit? Damals in dem italienischen Restaurant, während des ersten
Treffens mit Saskia. Und in jener Nacht in ihrem Badezimmer?
»Wieso sollte sie dich unter Kontrolle haben? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst«, sagte Uwe, aber da war etwas in seiner Stimme, was Sebastian signalisierte, dass er es doch verstand, dass er ganz genau wusste, wovon er sprach.
Also erzählte er ihm von den Anfällen.
Danach schwieg Uwe, starrte die weiße Bettdecke an, bevor er schließlich sagte: »Ich habe das schon einmal gehört.«
»Was?«
»Man hat Ellie Brock schon früher verdächtigt, andere Menschen auf eine unbekannte und unbegreifliche Art und Weise manipulieren zu können. Dieser ehemalige Klinikarzt, Wolfgang Schröder, hat mir gegenüber diesen Verdacht geäußert, aber ich hielt es natürlich für das Gefasel eines alten, kranken Mannes.«
»Dann ist es also wahr!«
Uwe zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht an solche Sachen … eigentlich glaube ich nicht daran, aber ich erlebe gerade, wie schnell sich eine Sichtweise ändern kann.«
»Mein Gott! Hätte ich doch nur abgedrückt!«
»Hör auf damit! Wie würdest du denn mit der Schuld, einen Menschen getötet zu haben, de facto ein Mörder zu sein, weiterleben können?«
»Mit dem, was jetzt vielleicht noch passiert, kann ich kaum besser leben.«
»Es wird aber nichts mehr passieren. Die kann sich nicht mehr ans Tageslicht trauen. Sobald sie irgendwo auftaucht, ist sie weg vom Fenster. Euer Hof wird ab sofort Tag und
Nacht bewacht, das hat Derwitz mir zugesagt. Jeder Polizist hat ihre Beschreibung, in dieser Gegend ist jedermann auf der Suche nach Ellie Brock. Mach dir also keine Sorgen.«
Sebastian lachte hölzern. »Du hast nicht in ihre Augen geblickt. Ich habe es getan, und ich weiß, sie ist zu allem fähig. Sie wird nicht aufgeben, bis es zu Ende gebracht ist. Kein Polizist der Welt kann mich oder Saskia vor ihr schützen.«
Uwe sah ihn durchdringend an. »Wenn du das wirklich glaubst, was willst du dann tun? Fliehen? Dich für alle Zeiten verstecken?«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde nicht fliehen. Ich werde auf unseren Hof zurückkehren und dort auf sie warten. Irgendwann wird sie es wieder versuchen, und dann werde ich vorbereitet sein. Ich werde sie erwarten.«
»Um was zu tun?«
Jetzt war es an ihm, Uwe fest anzusehen.
»Das, was ich heute nicht tun konnte.«
Saskia schlief, als Sebastian früh am nächsten Morgen ihr Zimmer betrat. Der behandelnde Stationsarzt, mit dem er auf dem Gang kurz gesprochen hatte, hatte ihn beruhigen können; Saskias körperlicher Zustand sei so weit in Ordnung. Die Rippen seien nicht gebrochen, sondern nur geprellt, die Wunde am Finger weise bisher keine Entzündung auf und werde wohl gut abheilen. Wie es in ihr aussah, konnte der Arzt natürlich nicht sagen, aber sie hatten ihr in der Nacht ein Schlafmittel gegeben, da sie ohne nicht hatte einschlafen können. Das war auch der Grund, warum sie immer noch schlief und wahrscheinlich nicht
ansprechbar war. So wie an jenem Tag, als er sie zum ersten Mal in diesem Krankenhaus besucht hatte, verdeckte ein großes Pflaster einen Teil ihrer Stirn. Sie wirkte völlig entspannt, ihr schwarzes Haar floss über das weiße Kissen, sanft hob und senkte sich ihr Brustkorb unter dem Laken. Sebastian starrte auf ihre Hand. Auf den dicken weißen Verband. Die Brock hatte den kleinen Finger hinter dem mittleren Gelenk abgetrennt, doch der Schnitt mit dem Messer war nicht sauber genug gewesen, der Knochen nicht glatt durchtrennt, sondern zerquetscht. Deshalb hatte der Arzt in der Nacht den kümmerlichen Rest des Fingers auch noch amputiert, sodass es hinter dem Knöchel keinen Stumpf gab.
Sebastian presste die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Tränen an. Es brach ihm schier das Herz, Saskia so daliegen zu sehen und zu wissen, welche Qualen sie durchgestanden hatte. Wie groß musste ihre Angst gewesen sein? Wie furchtbar die Schmerzen? Und alles seinetwegen. Wäre sie an jenem Morgen nicht bei Rot auf die Kreuzung gefahren, hätten sie sich nicht kennengelernt und Saskia wäre diese Tortour erspart geblieben. Ihre Liebe zueinander aber auch.
Er trat ganz nah an das Bett und nahm ihre gesunde Hand in seine. Unter dem gestärkten weißen Laken wirkte Saskia schmal und verletzlich.
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