Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Außentasche seiner Jacke. Auf dem Display stand eine Nummer, die er nicht kannte. Er nahm das Gespräch trotzdem an. Es war Derwitz. Zwei Minuten lang hielt er ihm einen Vortrag, warf ihm vor, die Arbeit der Polizei zu erschweren, Steuergelder zu verschwenden, sein Leben unnötig in Gefahr zu bringen und und und. Dann befahl er ihm, augenblicklich auf den Hof zurückzukehren.
»Jaja«, sagte Sebastian und beendete das Gespräch, das eigentlich ein Monolog gewesen war.
Er steckte das Handy zurück und trieb Falco an. Derwitz hatte natürlich recht mit allem, was er sagte, aber Derwitz steckte auch nicht in seiner Haut.
»Es ist verdammt schwierig, jemanden zu finden, der nicht gefunden werden will. Und wenn diese Person auch noch Übung darin hat, kein Lebenszeichen zu hinterlassen, tja … was soll ich sagen, du siehst es ja selbst. Sie ist jetzt seit fast einer Woche wie vom Erdboden verschluckt.«
Uwe Hötzner nahm zum wiederholten Mal die abgeschraubte Antenne eines Kofferradios, schob sie tief unter den Gips und kratzte sich damit. Dabei verzog er sein Gesicht, als litte er an einer monströsen Verstopfung.
»Für so eine Verrückte ist es ihr erstaunlich gut gelungen, ihre Spuren zu verwischen. Heute wie damals. Derwitz hat wirklich nichts über die Zeit gefunden, seitdem sie aus dieser betreuten Wohnanlage verschwunden ist. Keine Kfz-Zulassung, kein Eintrag im Melderegister, keine Sozialleistungen, keine Steuern, nichts. Als hätte es nie eine Ellie Brock gegeben. Jetzt haben wir zumindest ihre Fingerabdrücke von dem Forkenstiel, den Briefen, dem Gewehr,
aus eurem Haus und auch die Blutgruppenbestimmung vom Gebiss eures Hundes, aber auf ihre Spur bringt uns das auch nicht. Und mit wem wir es zu tun haben, wissen wir ja ohnehin schon.«
Sebastian sah Uwe dabei zu, wie er versuchte, die Antenne noch tiefer zu versenken. »Dann müssen wir also warten, bis sie erneut zuschlägt, oder wie soll ich das verstehen?«, fragte er.
Uwe zog die Antenne aus dem Gips raus, schob sie zusammen und legte sie neben sich in den Rollstuhl. »Fünf Menschen sind getötet worden, da warten wir nicht einfach ab und schauen, was passiert. Die Suche läuft unvermindert weiter, aber ohne eine konkrete Spur …« Uwe ließ den Satz unvollendet und machte eine Pause, bevor er weitersprach. »Derwitz meint, sie könnte auf der Flucht in den Wäldern umgekommen sein. Vielleicht hat er recht, und sie liegt tatsächlich irgendwo im Unterholz und vergammelt längst. Vielleicht hat sie aber auch aufgegeben und sich aus dem Staub gemacht. Auf Nimmerwiedersehen sozusagen.«
Sebastian fixierte ihn. »Und das glaubst du wirklich?«
Uwe beugte sich vor, nahm die Kaffeetasse und trank einen Schluck. Manche Menschen konnten nachdenklich trinken, und das tat Uwe gerade. Sebastian ahnte die Antwort voraus.
»Nein«, sagte Uwe erwartungsgemäß. »Ich würde es gern, aber das wäre eine gefährliche Verdrängung der Realität. Hat Derwitz dir eigentlich mehr erzählt als mir? Ich habe nämlich den Eindruck, er hält sich mit Informationen sehr zurück. Als Rache für unsere Eigenmächtigkeit wahrscheinlich.«
Sebastian zuckte mit den Schultern. »Nein, ich weiß
auch nicht mehr. Zuletzt hat er mich heute früh angerufen, um mich ordentlich zur Schnecke zu machen.«
Uwe zog die Stirn kraus. »Warum denn das?«
Sebastian erzählte von seinem Ausritt und Derwitz’ Anruf. Daraufhin bildeten sich ein paar beängstigend tiefe Falten auf Uwes Stirn. »Derwitz hat dich völlig zu Recht gefaltet. Wenn er es nicht getan hätte, müsste ich es jetzt tun … genau genommen müsste ich es trotzdem noch mal tun, doppelt hält ja bekanntlich besser. Herrgott noch mal, Junge! Wie kann man nur so leichtsinnig sein! Ich liege hier herum und zermartere mir den Kopf, wie ich euch helfen kann, und du reitest unbeschwert durch die Wälder und genießt den Sonnenaufgang!«
»So war es ja nun auch …«
»Ach, komm, drauf geschissen, ich will keine Ausflüchte von dir hören.«
Uwe beugte sich vor. Sein Blick legte Sebastian in Ketten. »Stattdessen will ich ein Versprechen von dir hören.«
»Was für ein Versprechen?«
»Dass du so eine Scheiße nicht noch mal machst, wenn du gleich die Kleine mit nach Hause nimmst. Ich habe an jedem der letzten vier Tage mit ihr gesprochen, und ich sage dir, sie ist was ganz Besonderes. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen. Ehrlich. Und wenn du auf dieses Mädchen nicht besser aufpasst als auf dich, reiße
Weitere Kostenlose Bücher