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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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behänden Bewegung, die ihrem Körper sonst nicht innewohnte, ergriff sie den Rollstuhl an den Griffen und schleuderte ihn mitsamt der alten Frau darin gegen die Wand. Scheppern und Poltern beendeten den
Schrei der Alten, übertönten aber nicht das hässliche Knacken brechender Knochen. Dann schellte es erneut an der Haustür.
    Ihr mächtiger Brustkorb hob und senkte sich unter den tiefen Atemzügen der ungewohnten Anstrengung. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie öffnen? Wer stand dort vor der Tür, und hatte die Person den Schrei und das Poltern gehört? Es klingelte ein drittes Mal, zudem pochte es an der Tür. Pochen, überall Pochen, warum ließen sie sie nicht endlich in Ruhe! Sie hatte keine Wahl. Also ging sie hinunter und öffnete. Lächelte breit und freundlich, zeigte dem Mann aber auch, dass sie völlig außer Atem war.
    »Oje, Sie haben mich auf der Toilette erwischt. Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat.«
    Lächeln, immer freundlich lächeln.
    Der Postbote, ein dicklicher Mann mit rotem Kopf und wenig Haaren, lächelte nicht. Er streckte ihr zwei Briefe und einen Packen Werbung entgegen.
    »Habe ich nicht eben einen Schrei gehört?«, fragte er.
    »Einen Schrei?«, sie tat erstaunt, dann als ob der Groschen fiele: »O ja, natürlich, die Toilette ist hinten, ich habe gerufen, damit Sie nicht weggehen.«
    »Hm«, machte der Postbote und zog die Stirn in Furchen.
    Seine kleinen Schweinsäuglein fixierten sie. Er war einer von der aufdringlichen Sorte, einer, der mit dem Finger auf andere zeigte, das spürte sie sofort.
    »Sagen Sie, wohnt Frau Kreiling nicht mehr hier? Ihre Post geht nicht mehr in den Kasten. Der ist schon seit Tagen voll.«
    Neugierig, vorwurfsvoll und aufdringlich, ein schlimmer, schlimmer Mensch. Aber im Moment ärgerte sie sich mehr
darüber, diesen dummen Fehler mit dem Briefkasten begangen zu haben. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Sie wusste doch, wie die Menschen hier auf dem Lande waren.
    Trotzdem lächeln!
    »Oje, das tut mir leid, den Briefkasten habe ich total vergessen. Ich leere ihn gleich aus.«
    »Und Frau Kreiling wohnt nicht mehr hier?«, blieb der Postbote hartnäckig.
    »Doch, natürlich. Sie hat sich letzte Woche im Garten den Fuß gebrochen, an so einer dummen Kante im Weg. Ich bin ihre Cousine mütterlicherseits und kümmere mich um Mechthild, bis sie wieder laufen kann.«
    »Den Fuß gebrochen? Na, dann wünschen Sie ihr mal gute Besserung. Schön, dass sie jemanden hat. Ich war immer der Meinung, sie hat gar keine Verwandtschaft.«
    »Ist ja auch nur entfernt, aber besser als gar nichts, nicht wahr?«
    Sie lachte übertrieben, ihr riesiger Busen bebte.
    »Da haben Sie recht. Bestellen Sie mal einen schönen Gruß. Wenn ich das nächste Mal mehr Zeit habe, sage ich guten Tag.« Er ging zur Zaunpforte. »Und leeren Sie den Kasten, sonst wird beim nächsten Schauer alles nass.«
    »Mach ich, ganz bestimmt.«
    Sie hob zum Abschied die Hand, konnte sich ein Winken gerade noch verkneifen. Man musste freundlich sein, durfte aber auch nicht zu dick auftragen. Die Menschen wurden argwöhnisch, wenn man ihnen zu viel unbezahlte, uneigennützige Freundlichkeit entgegenbrachte. Die Zeit war nicht mehr danach.
    Sie wartete noch ab, bis der Postbote seinen Hintern aufs Fahrrad geschwungen hatte und die Straße ein Stück
runtergefahren war (er drehte sich zweimal um dabei, das war nicht gut, gar nicht gut), dann drückte sie die Haustür sacht ins Schloss und schlich mit vorsichtigen Schritten die Treppe hinauf. Oben fand sie, was sie befürchtet hatte. Das Knacken vorhin war einfach zu laut gewesen.
    Mechthild Kreiling lag zwischen dem umgekippten Rollstuhl und der Wand. Ihr Hals war in einem anatomisch ungünstigen Winkel abgeknickt, ihre Augen weit geöffnet. Zuletzt hatte sich noch ihr Darm entleert. Fäkalgestank zog durch den kleinen Raum. Hitze und Gestank, beides erinnerte sie an die Anstalt. Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste sie sich an die Wangen.
    »Das habe ich nicht gewollt … nein, bitte, das habe ich doch nicht gewollt.«
     
    Die Pferde befanden sich auf der Koppel westlich des Hauses. Ihre Ausdünstungen waberten jedoch noch durch den Stall, und die Sonne, die mörderisch auf das Dach knallte, kochte daraus einen Sud, der kaum zu atmen war. Schon gegen Mittag war die Temperatur auf fünfundzwanzig Grad angestiegen, und ausgerechnet heute hatte Lars, ihre Hilfe aus dem Ort, der sonst zuverlässig war und sich nicht vor schwerer Arbeit

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