Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
unverwechselbaren Geruch ihrer Wohnung ein. Bewusst hatte sie ihn schon lange nicht mehr wahrgenommen, ihn im Krankenhaus aber trotzdem vermisst. Immer waren es die kleinen, unbewussten Dinge, die einem zuerst fehlten. Es waren genau diese Dinge, die Heimweh verursachten.
Saskia legte das Buch auf den Tisch, streifte ihre Schuhe ab und ließ sich auf die Couch fallen. Noch ehe sie es verhindern konnte, hatte Stefanie es sich gegriffen und blätterte darin herum. Natürlich entging ihr die Widmung nicht.
»Das ist persönlich«, sagte Saskia mit gespielter Empörung.
»Soso«, sagte Stefanie, klappte das Buch zu und sah sie grinsend an. »Und, was machen wir jetzt mit deinem Blumenfreund?«
»Was sollen wir denn machen?«
»Na hör mal! Du bist ihm in die Karre genagelt, trotzdem besucht er dich im Krankenhaus, bringt Blumen und Geschenke mit … Die Sache ist doch wohl eindeutig.«
»Wieso eindeutig? Er wollte sich einfach nur davon überzeugen, dass es mir gut geht.«
»Na klar«, sagte Stefanie, »und ich bin der Kaiser von China. Ruf ihn an!«
»Bitte?«
»Ruf ihn an! Es ist jetzt an dir, den nächsten Schritt zu machen. Immerhin hat er den ersten gemacht.«
Schon im Krankenhaus hatte Saskia darüber nachgedacht,
ob sie die Nummer auf der Visitenkarte, die sie im Tausch gegen ihre bekommen hatte, anrufen sollte. Eine Kleinigkeit, oder? Das Risiko konnte sie doch eingehen. Warum nicht? Die Nummer wählen, sich bedanken, vielleicht eine Einladung zum Essen, wie es unter Erwachsenen üblich war. Sie hatte es nicht getan, hatte sich nicht getraut, sich immer wieder nur gesagt, dass eine Beziehung zurzeit nicht in ihre Lebensplanung passte. Das Geschäft ging vor, musste vorgehen.
Stefanie schien ihre Gedanken lesen zu können.
»Hey, Süße, warum machst du es so kompliziert? Wenn ich deine Blicke und die Art und Weise, wie du während der Rückfahrt das Buch umklammert hast, richtig deute, dann hat dieser Herr Schneider das gewisse Etwas. Er interessiert dich doch, oder täusche ich mich?«
Nein, du täuscht dich nicht , dachte Saskia.
Der Justizvollzugsbeamte in graublauer Uniform schloss die Glastür vor sich auf, ließ Sebastian eintreten und verriegelte die Tür wieder. Dann ging er voraus, nach rechts den Gang hinunter. Sebastian hielt sich zwei Schritte hinter dem großen, breitschultrigen Mann und starrte auf dessen Rücken. Sie sprachen nicht. Entweder hatte der Mann die berüchtigte Montagslaune, oder es lag daran, dass Sebastian ein Monster wie Trotzek verteidigte. Aber das konnte ihm ja auch egal sein.
Sie erreichten ein Büro. An dem Schreibtisch darin saß ein weiterer Wärter und las in einem Buch. Jetzt sah er zu ihnen auf. »Für Trotzek?«
»Jau!«, sagte Sebastians Begleiter.
»Da liegt die Liste.« Die Nase senkte sich wieder Richtung Buch.
Sebastian bekam ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber gereicht.
»Wo das Kreuz ist, bitte.«
Er machte sein Namenszeichen an die markierte Stelle. Dann gingen sie den Gang noch ein Stück hinunter und passierten eine weitere abgesperrte Tür, bevor Sebastian in das Zimmer gesperrt wurde, das Anwälten und Angeklagten für Gespräche zur Verfügung stand. Als die Tür hinter ihm zuschlug, wurde es abrupt still. Trotzek war noch nicht da. Auf den Tag genau vor einer Woche war Sebastian in diesem Raum gewesen, hatte eine Abfuhr kassiert, würde es heute aber noch mal versuchen. Der Knast hatte schon viele stolze Männer gebrochen.
Er setzte sich an den Tisch. Die Sitzfläche und Lehne des Stuhls waren eiskalt. Zwei Minuten beschäftigte er sich sinnlos mit der Akte, bevor die zweite Tür des Raumes geöffnet und Trotzek hereingeführt wurde. Der Wärter wartete ab, bis Trotzek sich gesetzt hatte, dann verließ er den Raum. Die Tür schlug zu, und erneut kehrte Stille ein.
Sebastian sah Trotzek an. Der saß gekrümmt da, hielt seinen Blick starr auf die Tischplatte gerichtet und machte nicht den Eindruck, als ob er sehnsüchtig auf Sebastian gewartet hätte.
»Haben Sie mittlerweile über Ihre Verteidigung nachgedacht, Herr Trotzek?«
Seine Worte hallten in dem kahlen Raum. Zunächst blieb Trotzek reglos sitzen, starrte weiterhin die Tischplatte an. Dann, nach einer Minute des Wartens, hob er aber doch den Kopf – und offenbarte Sebastian einen anderen Mann als den, der vor einer Woche hier gesessen hatte. In den kleinen, roten Augen war jetzt ein Ausdruck, den Sebastian voher nicht gesehen hatte: Verzweiflung, vielleicht
sogar Angst.
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