Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Rücken.
Sie klang nicht sehr überzeugt.
Fünf Minuten später machten sie sich an die Arbeit. Sie luden die Kettensäge, Benzin, Axt, Beil und zwei Flaschen Mineralwasser in die Schubkarre und marschierten los. Über dem Tal lag noch immer eine Dunstglocke, die Dächer des Dorfes waren nicht zu sehen. Fast schien es so, als habe das heftige Unwetter der letzten Nacht sämtliches Leben hinfortgespült, und sie hier oben auf dem Schneiderhof wären die einzigen Überlebenden. Bei diesem Gedanken lief es Sebastian kalt den Rücken hinab.
Während er mit der Axt die Äste entfernte, sägte Edgar den massiven Stamm der ersten Kiefer in meterlange Stücke. Sie arbeiteten konzentriert und wegen des Lärms der Motorsäge schweigend. Nach zehn Minuten spürten beide, wie hoch die Luftfeuchtigkeit trotz des frühen Morgens schon war und wie rasant die Temperatur anstieg. Es würde wieder schwül werden, und vielleicht gab es am Abend erneut ein Gewitter.
Nach einer knappen Stunde war die erste Kiefer von der Straße geräumt. Das Geäst hatte Sebastian in den Wald gezogen, der zersägte Stamm lag aufgeschichtet am Straßenrand. Sie setzten sich auf das stark nach Harz duftende Holz und legten eine Pause ein. Die erste Wasserflasche wechselte zwischen ihnen. Minuten vergingen schweigend.
»Ist ein nettes Mädchen«, unterbrach Edgar nach einer Weile die angenehme Stille.
Sebastian sah seinen Vater von der Seite an. Er war gerade selbst in Gedanken bei Saskia gewesen.
»Ja«, sagte er nur.
»Du bist doch nicht sauer wegen gestern, oder?«
»Weshalb sollte ich sauer sein?«
Edgar trank einen Schluck, sein Kehlkopf hüpfte auf und nieder. Sebastian bemerkte, wie schlaff die Haut am Hals seines Vaters geworden war.
»Na, du weißt schon … Annas Neugierde.«
»Ach das! Nein, bin ich nicht, und ihr hat es nichts ausgemacht.«
Sebastian spürte, dass er noch irgendwas sagen sollte, etwas Beschwichtigendes, ein paar Worte der Absolution, damit Edgar sich für seine neugierige Frau nicht schämen musste, doch ihm war einfach nicht nach reden. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, seine Gedanken pendelten zwischen der Liebe, dem Tod und dem Verlust. Zwischen Saskia, Trotzek und Taifun. Und je länger sie pendelten, desto chaotischer ging es in seinem Kopf zu.
Edgar trank noch einmal von dem Wasser, dann gab er die Flasche Sebastian und stand ruckartig auf.
»Ich wollte nur, dass du weißt, dass wir sie mögen.«
Er stemmte seine Hände in den unteren Rücken, schob das Becken nach vorn und stöhnte.
»Nicht die richtige Arbeit für einen alten Mann.«
»Soll ich die Säge nehmen?«
Sie tauschten die Werkzeuge und rückten dem zweiten Baum zu Leibe. Der war sogar noch ein gutes Stück länger und hatte sich zudem zwischen den Ästen einer gegenüberstehenden kleinen Eiche verfangen. Während die lärmende und vibrierende Kettensäge sich durch das weiße Fleisch des Stammes fraß, dachte Sebastian über das kurze Gespräch mit Edgar nach. Es war typisch für sie beide. Kurze Sätze, die alles sagten. War Anna nicht dabei, brauchten sie nie viele Worte, um das Wesentliche zu klären. Solange sie einer Meinung waren, ging das auch in Ordnung, hatten
sie aber unterschiedliche Auffassungen, wie zum Beispiel im Fall Trotzek, war eine vernünftige Diskussion oder auch nur ein ausgiebiger Gedankenaustausch kaum möglich. Edgar beharrte wortkarg auf seiner Meinung. Mit ihm konnte man nicht diskutieren.
Eine weitere Stunde später hatten sie auch das zweite Hindernis von der Zufahrt entfernt. Gegen halb elf machten sie sich auf den Rückweg zum Haus. Sebastian schob die Karre und hatte keine Hand frei, um nach den lästig werdenden Mücken zu schlagen. Er fühlte sich klebrig und müde und auf keinen Fall einem langen Nachmittag im Büro gewachsen – aber wen interessierte das schon?
In der Stadt wartete ein Mörder auf ihn. Über dem Ort schoben sich graublaue Quellwolken zu riesenhaften Türmen auf und kündigten ein neues Gewitter an. Kein gutes Omen … überhaupt kein gutes Omen!
Sie kam barfuß an die Haustür. Zwischen der lockeren schwarzen Hose und dem oliven Shirt blitzte ihr Bauchnabel hervor. Ihr Haar glänzte feucht und war noch eine Schattierung dunkler als sonst. Sie hatte geduscht; ihr Körper strahlte Wärme ab und roch leicht nach Parfum. Nach einem langen Kuss an der geöffneten Tür nahm sie seine Krawatte zwischen die Finger und spielte damit.
»So siehst du also aus, wenn du arbeitest.
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