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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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hatte, setzte Uwe sich, nachdem er drinnen nicht mehr gebraucht wurde, auf die verwitterte Holzbank an der Einfahrt zum Hof. Dort steckte er sich eine Zigarette nach der anderen an, und während er hektisch rauchte, versuchte er, sich in Gedanken die richtigen Worte zurechtzulegen. Die Minuten verrannen, zwischen seinen Füßen lagen bald einige Zigarettenstummel, aber sein Kopf brachte nichts Brauchbares zustande. Immer
wieder diese Bilder … das blutgetränkte Zimmer … Daunenfedern, die mittels geronnenem Blut an der Decke klebten … das Auge im Schnabel einer Krähe …
    Uwe schüttelte sich. Er durfte sich davon nicht übermannen lassen, durfte nicht hier sitzen und ins Grübeln verfallen. Es konnte noch Stunden dauern, bevor der Junge auftauchte, diese Zeit musste er sinnvoller einsetzen. Aber womit? Die Ermittlungen lagen nicht in seiner Hand, er war sozusagen raus. Die Profis aus der Stadt waren angerückt, mit Mann und Maus und allem, was man sich nur vorstellen konnte. Vieles davon hatte Uwe noch nie zu Gesicht bekommen, dabei war er bereits seit fast fünfundzwanzig Jahren Polizist. Aber eben in Bentlage, wo es in dieser Zeit keinen einzigen Mord gegeben hatte.
    Er stand auf, ging ein paar Schritte, starrte zum Haus hinüber. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Die Techniker der Spurensicherung, die Ermittler der Kripo, die Sanitäter, alle waren in einer sachlichen, ruhigen Art und Weise ihrer Arbeit nachgegangen, doch jetzt gab es Aufregung. Ein Sanitäter lief vom Haus zum Rettungswagen, holte etwas und stürmte zurück, die Eingangsstufen mit einem gewaltigen Satz überwindend. Zwei Beamte in Zivil, deren Namen Uwe sich nicht gemerkt hatte, folgten ihm. Die uniformierten Beamten, bis eben unterbeschäftigt und gelangweilt, interessierten sich plötzlich für das Haus.
    Uwe wollte zurückgehen, hörte aber im selben Moment ein Motorengeräusch. Ein Wagen kam den Berg hoch. Uwe verharrte, wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er Sebastians Leihwagen in der letzten Kurve vor dem Schneiderhof auftauchen sah. So wie er es sich vorgenommen hatte, postierte Uwe seinen massigen Körper unter dem Holzbogen
der Einfahrt, sodass der Junge gar nicht erst auf den Hof fahren konnte.
    Der Wagen stoppte. Sebastian verharrte hinter dem Steuer. Deutlich konnte Uwe die weit aufgerissenen Augen erkennen. Dann stieg er aus. Seine Bewegungen wirkten eckig, wie die eines Toten, ganz so, als wüsste er schon Bescheid.
    »Was ist hier los?«, fragte er. Sein Blick blieb nur kurz an Uwe haften, ging dann an ihm vorbei.
    »Sebastian …«, begann Uwe, kam jedoch nicht weiter, da der Junge plötzlich schneller wurde, ihn einfach über den Haufen rennen wollte.
    Uwe hob die Arme und trat einen Schritt vor. Unter dem Torbogen mit den beiden eingebrannten Hufeisen rangen sie miteinander, und Uwe bekam Sebastian nur wegen seines größeren Gewichts unter Kontrolle. Er umklammerte seine Arme und drängte ihn in Richtung der Koppeln ab. Dabei bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie Kriminalhauptkommissar Derwitz vor dem Hauseingang hektisch winkte. Sollte er doch. Was immer die im Haus gefunden hatten, konnte warten. Musste warten.
    Uwe zog Sebastian, der sich nun widerstandslos führen ließ, noch ein Stück weit zu den Wiesen hinunter. Gut zweihundert Meter vom Haus entfernt herrschte Stille, und ließ man den Blick übers Tal gleiten, statt zum Hof zu sehen, bekam man den Eindruck allumfassenden Friedens. Frieden! Genau das hatte Uwe immer mit dem Schneiderhof assoziiert: Ruhe und Frieden. Aber die Welt war ein Ort ständiger Veränderung.
    Ohne Sebastian auch nur einmal anzusehen, ohne seine Augen von dem berauschend schönen Anblick der hügeligen Tannenwälder und des daraus hervorragenden Adlerrückens
zu nehmen, erzählte Uwe dem einzigen Kind seines Freundes, was er hier vorgefunden hatte. Dabei konnte er nicht verhindern, dass seine Stimme stockte und zitterte und ihm Tränen über die Wangen liefen – die ersten, seitdem er eingetroffen war. Er konnte auch das Versprechen nicht mehr einhalten, welches er vor wenigen Tagen Edgar und Anna gegeben hatte. Sebastians Adoption ließ sich nun ohnehin nicht mehr geheim halten.
    Während er sprach, hörte er hinter sich Schritte näher kommen. Aber erst als alles gesagt war, sah Uwe über seine Schulter zurück. Da stand Derwitz und wackelte bedeutungsvoll mit dem Kopf.
    »Bleib bitte einen Moment hier«, sagte Uwe und ließ Sebastian

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