Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
auf dem Bett. Das Gesicht …«
Wiegand blickte zur Decke. Sein Kehlkopf hüpfte auf und ab. »Ihr Gesicht ist zerstört, wir konnten sie bisher noch nicht identifizieren. Würden Sie Frau Eschenbach erkennen, ohne ihr Gesicht ansehen zu müssen?«
Sebastian nickte. Spürte dabei, wie aus seinem Magen,
in dem sich nichts befand, etwas aufstieg. Seine Hände begannen zu zittern.
»Ich würde Ihnen das gern ersparen, aber es wäre uns eine große Hilfe. Fühlen Sie sich dazu imstande, Herr Schneider?«
Wieder nickte Sebastian, obwohl er lieber Nein! geschrien hätte. Er fühlte sich nicht dazu imstande, er wusste, dass er es nicht überstehen würde, sollte dort oben wirklich Saskia liegen, grausam zugerichtet auf dem Bett, in dem sie sich vor Kurzem noch geliebt hatten. Nein, kein Mensch auf der Welt konnte so etwas ertragen. Keiner! Trotzdem stand Sebastian auf und folgte dem jungen Kommissar. Als sie die Küche verließen, spürte er genauso wie vorhin, wie sein Körper sich ohne seine aktive Hilfe fortbewegte.
Auf der Treppe hielt Wiegand einen Mann zurück, der das Haus verlassen wollte. Mit einem Nicken wies er auf Sebastian und sagte etwas, worauf ihnen der Mann nach oben folgte. Sebastian bekam zwar alles mit, doch es interessierte ihn nicht. Er war völlig fokussiert auf das, was ihn dort oben erwartete. Jede einzelne Stufe war schwerer zu überwinden als die vorherige, sein Atem pfiff und rasselte tief in seiner Lunge, in seinem Kopf schien sich von der Mitte her eine schwarze Wolke auszubreiten.
Dann waren sie in Saskias Wohnung, durchquerten das Wohnzimmer. Überall verteilt standen noch die heruntergebrannten Stummel der Kerzen, doch nichts war mehr übrig von der zarten, von Liebe und Verlangen angefüllten Atmosphäre. Hier herrschte nur noch der Tod. Sebastian spürte Schwindel.
Das Schlafzimmer!
Unwillkürlich blieb Sebastian vor der Tür stehen. Der
Mann von der Treppe, der sich hinter ihm befand, schob ihn weiter vor. Eine schwere Hand lag auf seiner Schulter.
Das Bett!
Kein Ort der Liebe mehr, ein Ort des Grauens. Ein unvorstellbarer Anblick, derart falsch, dass sein Gehirn sich weigerte, es aufzunehmen. Die Augen sahen den hingestreckten Körper, die flehenden Hände, den abgedeckten Kopf, die Blutlache vor dem Bett, sahen das alles, schickten die Information zum Gehirn, doch das schottete sich ab. Der Schwindel wurde stärker, ebenso die Übelkeit.
»Ist das Frau Eschenbach?«
Sebastian hörte die Frage. Sie kam aus unendlicher Entfernung und entfernte sich immer weiter. Als die letzten Silben verklangen, hatte das Schwarz in seinem Kopf alles verdeckt. Plötzlich wollte auch sein Körper nicht mehr, und er brach auf der Türschwelle zusammen.
Auch Postboten hatten ein Anrecht auf Probleme. Ginge es nach Uwe Hötzner, könnten sie Säcke voller Probleme haben. Hauptsache, sie gingen ihm nicht auf die Nerven damit. Und schon gar nicht an Tagen wie diesem. Aber wenn es ein ungeschriebenes Gesetz gab, das sich immer wieder selbst bestätigte, dann dieses: Ein beschissener Tag kann nur noch beschissener werden!
Karl Wohlan war schon in der Schule eine Nervensäge erster Güte gewesen, und nun als Erwachsener einer der neugierigsten Männer, die Uwe kannte. Seit ein paar Jahren trug er in Ralsdorf die Post aus, vorher war er in Bentlage gewesen. Was damals zu seiner Versetzung geführt hatte, wusste Uwe nicht, und er wollte es auch nicht wissen. Viel Kontakt hatte er nie zu seinem ehemaligen Klassenkameraden gehabt, und auf den heutigen hätte Uwe nur zu
gern verzichtet. Aber er war wohl der einzige Polizist, den Wohlan persönlich kannte, folglich war er auch der einzige Ansprechpartner.
Uwe hatte eben die Tür zu seinem Dienstzimmer hinter sich zugezogen und abgeschlossen, als Wohlan ihn erwischte. Zwei Minuten später wäre er weg gewesen! Verdammter Mist! Er wollte wieder raus zum Schneiderhof; solange die Kripo keine Bewachung abstellte, wollte er das übernehmen. Zumindest nachts. Außerdem brauchte der Junge da oben jemanden, mit dem er reden konnte.
Uwe ärgerte sich über die Störung, und das ließ er Wohlan auch spüren.
»Komm doch morgen wieder. Oder fahr besser gleich in die Stadt, ich hab keine Zeit.« Demonstrativ ging Uwe ein paar Schritte in Richtung der Ausgangstür, doch Karl Wohlan rührte sich nicht von der Stelle.
»In die Stadt! Die lachen mich doch aus da! Zwei Minuten wirst du doch wohl für mich übrig haben.«
»Warum sollten sie dich auslachen? Wenn
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