Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Saskias rechte Hand, umklammerte ihr Handgelenk und riss es nach vorn. Dabei drängte sie ihr ganzes Gewicht, ihre gewaltige Masse auf das Bett und quetschte Saskia zwischen sich und der Wand ein. Der Schmerz an den Rippen war infernalisch. Saskia schrie, stemmte ihre Knie gegen den fetten Rücken, versuchte, die Frau wegzudrücken, schaffte es aber nicht. Sie war wie ein Fels. Saskias Arm wurde zwischen den Oberarm und den Körper der Frau gepresst und mit einem Ruck noch weiter
nach vorn gerissen. Es knackte im Schultergelenk. Saskia meinte, der Arm würde ihr ausgerissen. Die Frau drückte ihre Hand auf die Matratze nieder und quetschte die Finger auseinander.
Saskia schrie, zappelte, kämpfte, doch eingeklemmt in diesen menschlichen Schraubstock hatte sie keine Chance. Sie krallte ihre freie linke Hand ins Haar der Frau, doch es war zu kurz und zu fettig, um daran reißen.
Sie spürte die Klinge an ihrem kleinen Finger, spürte den Druck …
Und endlich Dunkelheit.
Die Uhr an der Wand über der Anrichte in Saskias Wohnung war in den letzten zwei Stunden zu Sebastians persönlichem Feind geworden. Mit quarzgenauer Gleichgültigkeit schob sich der Minutenzeiger vor, jedes mechanische Ticken hallte laut in seinen Ohren nach, und doch musste er immer wieder hinsehen. Jede verstrichene Minute verstärkte seine Qual und steigerte seine Ungeduld. Längst konnte er nicht mehr sitzen bleiben, lief im Wohnzimmer auf und ab, sah immer wieder durch das große Fenster auf die Straße hinab. Natürlich hoffte er jedes Mal, Saskias Wagen vorfahren zu sehen, war sich des Öfteren sogar sicher gewesen, das Motorgeräusch, welches er ja gar nicht kannte, gehört zu haben. Seine Hoffnung spielte ihm Streiche, ergötzte sich an seinem Leid. Lange, das spürte Sebastian, würde er das Warten nicht mehr aushalten. Schon jetzt kostete es ihn Mühe, nicht die Uhr von der Wand zu reißen und mit Füßen darauf herumzutreten. Das würde ihm Saskia nicht wiederbringen, es würde auch die Zeit nicht anhalten, aber zumindest müsste er dann nicht jede Minute ertragen. Er wollte raus, wollte nach ihr suchen. Derwitz
und Hötzner hatten ihm schon vor einer Stunde klargemacht, wie wenig Sinn eine ungeplante, unkoordinierte Suche machte. Längst war da draußen der Polizeiapparat in Gang gesetzt, fahndeten Profis nach Saskia und ihrem Wagen, drehten Uniformierte jeden Stein in der Umgebung um, schauten hinter jedes Gebüsch, sprachen mit den Anwohnern. Gute Leute, die wussten, was zu tun war, und die sicher auch nichts unversucht ließen. Aber keiner von ihnen liebte Saskia, keiner von ihnen war darauf angewiesen, dass sie wieder auftauchte. Keiner von ihnen brauchte sie zum Leben! Er musste etwas tun! Er musste sie suchen!
»Verdammt!«, schrie Sebastian und schlug mit den flachen Händen gegen den Rahmen des Fensters, vor dem er gerade stand. In der Spiegelung des Glases sah er, dass Uwe ihn beobachtete. Er drehte sich um.
»Wir müssen doch mehr tun können! Ich ertrag es nicht, hier noch länger herumzustehen!«
Uwe schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich, wirklich, aber es wird schon alles Erdenkliche getan. Über fünfzig Beamte sind da draußen unterwegs und suchen nach ihr. Aber du hast es ja selbst gehört, es gibt keine Spuren. Die Nachbarin hat ihren Wagen davonfahren sehen, kurz nachdem er gekommen war, ist sich aber nicht sicher, wer am Steuer saß. Das ist auch schon alles. Ihr Handy lässt sich nicht orten, also ist es abgestellt. Auf eurem Hof steht ein Streifenwagen, da ist sie definitiv nicht. Sie ist auch nicht wieder zu ihrem Kunden gefahren. Es bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als …«
»Hör doch auf!«, schrie Sebastian. »Du weißt genauso gut wie ich, dass sie dieser wahnsinnigen Ellie Brock in die Arme gelaufen ist, und das weiß auch Derwitz, selbst wenn
er es nicht zugibt. Wir können hier nicht herumstehen und warten, bis diese völlig irre Person auch noch Saskia umbringt und uns ihre … ihre Leiche präsentiert.«
Während der letzten drei Worte war Sebastian leiser geworden. Es verursachte ihm körperliche Schmerzen, diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen. Saskia lebte! Das spürte er, es konnte gar nicht anders sein, weil er sie sich nicht anders vorstellen konnte, weil er in ihrer Wohnung war, ihre Bilder mit ihren Initialen betrachtete, ihre Nähe spürte, ihren Duft roch. Sie lebte! Einen anderen Gedanken würde er sich nicht gestatten, bis er sie wieder in die Arme
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