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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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hob er jetzt vorsichtig den Deckel an und ließ ihn nach hinten überkippen.
    In dem Kästchen befand sich eine Spieluhr. Sie war nicht größer als eine Hand, bestand aus Blech und sah ziemlich alt aus. Auf dem runden Fuß stand ein kleiner Junge, der mit Stock und Hut und zum Pfeifen gespitzten Lippen in die Welt hinauszog.
    Sebastian nahm die Spieluhr heraus, hielt sie ins Licht, betrachtete sie. Irgendeine eingerostete, längst vergessene Saite in ihm wurde sanft angeschlagen. Es war ein schönes, ein wohliges Gefühl, so als käme er nach langer Abwesenheit wieder nach Haus. Während er die Spieluhr betrachtete, nahm Uwe einen mehrfach gefalteten, violetten Zettel aus dem Kästchen. Nach einem wortlosen Blickwechsel faltete er ihn auseinander. Im selben Augenblick entdeckte Sebastian den Auslösemechanismus an der Spieluhr. Er betätigte ihn. Der kleine Junge begann sich im Kreis zu drehen, dazu spielte mit hellen, blechernen Tönen die Melodie von Hänschen klein . Nicht ganz zeitgleich begann Uwe zu lesen, was auf dem Zettel stand.
    Hänschen klein ging allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut stehn ihm gut,
ist ganz wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Wünsch dir Glück, sagt ihr Blick,
kehr nur bald zurück.
Sieben Jahr, trüb und klar,
Hänschen in der Ferne war.

    Da besinnt sich das Kind,
eilet heim geschwind.
Doch nun ist’s kein Hänschen mehr,
nein ein großer Hans ist er.
Braun gebrannt Stirn und Hand,
wird er wohl erkannt?
Eins, zwei, drei gehen vorbei,
wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht: Welch Gesicht!, kennt
den Bruder nicht.
Kommt daher die Mutter sein,
schaut ihm kaum ins Aug hinein,
spricht sie schon: Hans, mein Sohn, grüß
dich Gott, mein Sohn!
     
    Eins, zwei, drei gehen vorbei …
dann bist du wieder mein!
    Uwe hatte schnell gelesen, schneller als es die Melodie vorschrieb, und als er endete, spielte die Uhr noch ein paar Sekunden weiter. Die feinen Töne verhallten in der Nacht, hinterließen aber einen Nachhall in Sebastians Kopf, der dem einer Domglocke gleichkam.
    Er starrte Uwe an. Im harten Licht der Autoscheinwerfer wirkte dessen sonst weiches, aufgedunsenes Gesicht wie das einer marmornen Statue. Die einzig darin sichtbare Empfindung war Entsetzen.
    »Eins, zwei, drei, gehen vorbei, dann bist du wieder mein«, sagte Uwe leise. »Ich bin nicht ganz textsicher, aber dieser letzte Satz gehört nicht zu dem Lied, den hat sie selbst dazugedichtet. Eins, zwei, drei … Edgar, Anna – und Saskia. Sie hat sie entführt, zweifellos.«

    Ein Schauer lief Sebastian über den Rücken. »Und sie war hier, wahrscheinlich während der Streifenwagen in der Einfahrt parkte.«
    Sebastian ließ seinen Blick über den Hof gleiten. Natürlich konnte er nichts sehen, sie hockten ja im Scheinwerferlicht, aber ihm ging auf, dass er und Uwe sich auf dem Präsentierteller befanden. Gut sichtbar für jeden, der sich in der Dunkelheit verbarg. »Sie hat es tatsächlich gewagt, hier wieder herzukommen.«
    »Und weißt du, was das bedeutet?«
    Sebastian nickte. »Sie muss ihr Versteck in unmittelbarer Nähe haben, denn sie war zu Fuß hier. Wäre sie mit einem Wagen gekommen, hätte die Streife sie bemerkt. Und allzu weit weg kann das Versteck nicht sein … sie hatte ja nicht viel Zeit.«
    »Ein Radius von fünf, höchstens sieben Kilometern. Denk mal nach, was kommt da in Frage. Bentlage und Ralsdorf. Und wenn ich es mir recht überlege …«
    Plötzlich stockte Uwe. Sein ganzer Körper erstarrte, wurde nun vollständig zur Statue, und in seinem Gesicht wurde das Entsetzen noch eine Spur intensiver.
    »Was ist?«, fragte Sebastian.
    »Hast du den Ordner mit den Adoptionsunterlagen noch?«
    »Nein. Den hat Derwitz mitgenommen. Warum?«
    »Kannst du dich noch an die Adresse erinnern? Wo hat Ellie Brock damals gelebt?«
    Uwe sprach mit völlig veränderter Stimme, in der große Erregung mitschwang.
    »Irgendwas in Ralsdorf … Ich weiß nicht genau, Feldstraße oder …«
    »Feldweg Nummer 9«, schoss es aus Uwe hervor. Gleichzeitig
sprang er auf. »Verflucht! So eine verdammte Scheiße! Warum ist mir das nicht früher eingefallen.«
    »Was ist denn los?« Sebastian war ebenfalls aufgestanden.
    »Ich weiß, wo Ellie Brock sich versteckt hält!«
     
    Von ihrem kleinen Finger, der nicht mehr da war, strömte das widerliche Pochen bis in den letzten Winkel ihres geschundenen Körpers und brachte sie fast um den Verstand. Zusammengekrümmt und zitternd lag Saskia

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