Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Terrassentür hoch. Sie wollte fliehen!
Sebastian sprang aus der Kelleröffnung in den Flur und wandte sich nach rechts, von wo das Geräusch gekommen war. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe fiel auf eine angelehnte Tür. Mit dumpf und schnell pochendem Herzen und rasendem Atem ging er die wenigen Schritte bis zur Tür. Er hob die Waffe, zielte und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Ihm gegenüber befand sich die Terrassentür, fast gänzlich verdeckt von einem gewaltigen Rücken. Sebastian hob die Waffe ein Stück an, zielte auf den Lichtkreis, den seine Taschenlampe auf den breiten Rücken zeichnete und rief: »Nein!«
Langsam, ganz langsam, drehte sie sich um.
Ellie Brock.
Seine Mutter.
Ein Schuss hätte genügt, er konnte sie gar nicht verfehlen, doch sein Zeigefinger wollte sich nicht krümmen. Sebastian schwitzte, seine Hände zitterten, seine Beine schienen unter ihm nachgeben zu wollen. Jetzt hatte sie sich ihm gänzlich zugewandt. Ihre Arme hingen bewegungslos an den Seiten, keine Waffe oder Ähnliches in ihren Händen. Obwohl er es nicht bewusst wollte, ließ Sebastian den Lichtkegel der Taschenlampe hinauf zu ihrem Gesicht wandern. Zentimeter für Zentimeter über den gewaltigen Busen, den kurzen, dicken Hals, dann weiter …
Sie lächelte!
Großer Gott, sie lächelte ihn tatsächlich an! Sebastian starrte ihr in die Augen. Da war keine Bosheit, da war kein Irrsinn. Nur die reine Liebe einer Mutter, die nach unendlich langer Zeit ihren Sohn wiedersah und es nicht fassen konnte. In diesem Augenblick war nichts an diesem Gesicht böse. Ihr Lächeln war warm und herzlich, erreichte auch ihre Augen und verlieh ihnen einen feuchten Glanz. Täuschte er sich, oder kullerte wirklich eine Träne ihre feiste Wange hinab? Sebastian starrte sie weiterhin an und spürte, wie sein Arm, der immer noch die Waffe auf sie richtete, schwerer und schwerer wurde. Zitternd kämpfte er dagegen an, die Waffe sinken zu lassen. Diese Frau hatte Edgar getötet und Anna schwer verletzt, sie hatte die beiden alten Leute aus ihrem Weg geräumt, irrtümlich Stefanie ermordet und Saskia entführt. Sie hatte Taifun erstochen! All diese abscheulichen Taten hatte sie vollbracht, und trotzdem war plötzlich kein Zorn und keine Wut mehr in Sebastian. Sie war seine Mutter! Diese Frau hatte ihn
zur Welt gebracht, von ihrer Brust war er gestillt worden. Und alles, was sie getan hatte, hatte sie nur aus Liebe zu ihm getan.
Durfte er sie erschießen?
In seinem Inneren tobte ein Kampf, unerbittlicher und schmerzhafter, als er es sich je hätte vorstellen können. Sein ganzer Körper zitterte, und wenn er jetzt geschossen hätte, hätte er sie selbst auf diese kurze Distanz verfehlt. Ein Teil von ihm wollte seine Familie rächen, ein anderer schien etwas für diese Frau zu empfinden. Warum schrie sie nicht? Warum war ihr Gesicht nicht eine vor Wut und Irrsinn verzerrte Fratze? Ein Monster hatte er erwartet, und nun stand dort eine liebende Frau, seine Mutter, und lächelte ihn an. Er konnte doch keine Kugel in dieses Gesicht schießen.
Unendlich langsam sackte sein Arm nach unten. Der kurze Lauf der Waffe wanderte an ihrem Körper hinab. In seinem Kopf dröhnte und rauschte es, seine Sicht wurde immer schlechter. Ellie Brock sagte nichts, aber als sie sah, dass er die Waffe senkte, drehte sie sich um, legte ihre große Hand auf den Griff der Terrassentür und drückte ihn hinunter. Bevor sie die Tür öffnete, drehte sie noch einmal den Kopf und sah ihn an. Sie weinte tatsächlich, ihre Wangen waren feucht. Ganz leicht, kaum wahrnehmbar schüttelte sie den Kopf.
»Später«, sagte sie leise.
Dann öffnete sie die Tür, trat hinaus und verschwand in der Dunkelheit des Gartens.
Wie lange Sebastian noch dastand und in den Garten starrte, konnte er später nicht mehr sagen. Sein Kopf schien abgeschaltet zu sein. Er fühlte sich wie unter Schock. Ein dünnes Rufen riss ihn schließlich aus seiner Starre. Tausendfach
gefiltert drang es nach und nach an seine Ohren, zog ihn in die reale Welt zurück.
Als er sich blinzelnd umsah, fiel sein Blick auf einen Tisch. Eine Schale stand dort, umringt von heruntergebrannten Kerzen und merkwürdigen Zeichnungen auf der weißen Tischplatte. Er leuchtete dorthin. Die flache Holzschale war mit einer dunklen Flüssigkeit angefüllt, darin schwamm etwas. Sebastian trat näher heran … und prallte entsetzt zurück! Blut war in dieser Schale, und darin schwamm ein Finger. Sein Magen zog sich zusammen, er
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