Haeppchenweise
Offenbar hat sich ein Haken aus dem Putz gelöst.
Vida zupft an ihrem Hemdsärmel. „Julia? Wir müssen es den anderen sagen.“
„Okay. Schicken wir sie heim.“
Die erwartungsvollen Gesichter der Kochschüler machen ihre Aufgabe keinen Deut leichter. Nervös vergräbt Julia ihre Hände in den Hosentaschen. Niemand ist gegangen, selbst Melitta Dukakis thront wie angegossen auf dem einzigen Barhocker in der Küche, den unberührten Kartoffeleimer zu ihren Füßen.
„Wie es aussieht ...“ Sie hört das Zittern in ihrer eigenen Stimme. Henrys wissende Augen sind kaum zu ertragen, zumal sie selbst schwer gegen ihre Enttäuschung ankämpft. Ohne Julius kein Kochkurs. Ohne Kochkurs kein Wettstreit. Ohne die Gewinnsumme kein Cook & Chill. Zwar war die neue Cateringkundin von ihrem Hochzeitskonzept hellauf begeistert gewesen – hatte den Vertrag aber bis heute nicht zurückgefaxt.
„Julius ist ...“
„... schon da!“
Julius lehnt außer Atem am Hintereingang, eine Flasche Whisky unter die Achsel geklemmt und einen Korb mit Suppengemüse in den Armen. Er stellt seine Last ab, fasst an sein krummes Rückgrat. Dann bohrt sich sein vorwurfsvoller Finger in Julias Magen und direkt in ihr schlechtes Gewissen.
„Im Keller sieht´s aus wie in einer Obdachlosensammelstelle! Ich will, dass da bis morgen Ordnung herrscht, ist das klar?!“, blafft er. Julia nickt demütig. Ein wütender Julius ist ihr allemal lieber als ein verschollener Julius.
Sein prüfender Blick streift Henriette, die wie mit dem Fenstersims verwachsen scheint, und haftet sich dann an das Gesicht der Chilenin. Sofort überzieht eine flammende Röte Vidas Hals und Wangen.
„Ich gehe davon aus, dass alle hier sich entschieden haben, mit mir zu arbeiten. Beginnen wir mit dem ersten Menü, damit ich sehe, was Sie können. Wir machen zuerst Fleischbrühe in größeren Mengen, unsere Basis für Suppen und Soßen. Wer weiß, wie man Brühe klärt?“
„Mit Whisky? Oder ist der nötig, um den Chefkoch zu ertragen?“ Lukas zeigt grinsend auf die Flasche und deutet eine Trinkbewegung an.
Hörbares, allgemeines Luftanhalten.
„Was denn?“, glotzt Lukas in die bestürzten Mienen, Julia schließt ergeben die Lider.
Das war´s. Jetzt wirft Julius die Schürze. Und sie kann es ihm nicht mal verdenken.
Ein merkwürdiges Schnarren ertönt, weder fliegt ein Teller an die Wand noch die Flasche zu Boden. Vorsichtshalber öffnet sie nur ein Auge. Julius fasst an seine Brust. Was da aus seinem Mund kommt, klingt zwar wie ein heiseres Husten, lässt aber keinen Zweifel offen: Er lacht.
„Manchmal liegt der Reiz des Besonderen im Unerwarteten, nicht wahr, Schneckenvögelchen?“ Julius schnappt nach Luft, während Julia verlegen ihre Schuhspitzen mustert. „Darum geben wir unserer Suppe mit diesem Tropfen eine ausgefallene Note, die der Gast nicht erwartet. Wenn Sie allerdings ein Gläschen benötigen, um Ihre nächste Aufgabe zu überstehen, nur zu!“
Lukas´ Blick folgt Julius´ ausgestrecktem Finger. Der Student erbleicht.
„Ihhhh! Das ist ja eklig!“
Der Ausruf stammt von Vida, die sich über eine Schüssel geschnittener Zwiebeln beugt. Aus der Schlachtertüte ragt ein langer, hautfarbener Ochsenschwanz hervor. Julius lächelt.
„An der Längsseite hängt das Schlachtbeil, junger Mann. Ich hätte gern hübsche, dreifingerbreite Stücke.“
„Wie weit sind die Erdäpfel?“ Der Koch mustert mit zusammengeschobenen Augenbrauen den Kartoffelschäler in Melittas Hand. Seine Schädeldecke kommt ihr nah genug, dass sie die Kopfhaut zwischen den grauen Haaren sieht.
Melitta versteht sich selbst nicht. Sie könnte Mammá einfach nehmen und mit ihr gehen. Frau Lehner ist im Krankenhaus und dieser Zander hat offenbar keine Ahnung, wer an diesem Seminar teilnimmt.
Der Tag hatte ohnehin nicht gut angefangen. Ihre Mutter hatte sich ins Kinderzimmer verirrt und dort versucht, eine Hose ihrer Enkelin anzuziehen. Als Melitta von der Bäckerei zurückkam, fand sie Mammá weinend auf Elenis Spielteppich sitzend, der festen Überzeugung, sie sei zehn Kilo schwerer geworden.
Unter normalen Umständen und ginge es um eine Fremde, hätte Melitta herzlich gelacht. Doch ihr ist das Lachen vor einiger Zeit vergangen. Sie weiß, dass in Mammás augenblicklicher Verfassung nur ein Wort genügen würde, um diesem leidigen Kochkursthema ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Trotzdem rührt sie sich nicht von der Stelle und erlaubt diesem schlimmen Menschen,
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