Haeppchenweise
den Schatten der Hecke auszuweichen, die den gepflasterten Gehweg säumt.
Julia Wagner tippelt durch die Schwingtür, in der für sie typischen Haltung, mit hochgezogenen Schultern, die Ellbogen fest an die Seiten gepresst. Auf seiner Höhe angekommen strauchelt sie, als sei sie keine Absatzschuhe gewöhnt. Felix hält den Atem an, beherrscht den Reflex, die Hand auszustrecken und weicht in den Schutz des Blattwerks zurück. Sie geht so dicht an seinem Versteck vorbei, dass er den blumigen Geruch wahrnimmt, der von ihr ausströmt. Er braucht Sekunden, um die Sinneswahrnehmung einzuordnen.
Minuten später rührt er sich noch immer nicht vom Fleck, obwohl Julia längst vom Dunkel des Parks verschluckt wurde. Sein Gesicht brennt, als habe ihm jemand eine Ohrfeige verpasst. Der Lilienstrauß in Julias Arm war eindeutig für eine andere Person bestimmt gewesen.
Er tritt auf den verlassenen Fußweg, wirft einen Blick zu dem Fenster hinauf, mittlerweile ein blinder Klecks im Mauerwerk. Er atmet seine Enttäuschung aus und schlägt den Weg Richtung Parkplatz ein. Das nachhaltige Vibrieren seines Handys in der Jackentasche beachtet er nicht.
„Wohin gehen wir?“
„Wir nehmen die Abkürzung durch den Klinikpark, Mammá. Du kennst den Weg doch, wir sind ihn häufiger gegangen.“
„Ach ja? Ich kann mich gar nicht daran erinnern.“
„Im Dunkeln sehen die Dinge oft anders aus, als bei Tag.“
„Wenn du es sagst, mein Kind.“
Melitta hakt ihre Mutter fest unter. Der dünne Arm kommt ihr knochiger vor als sonst, und Roúlas fröhlicher Tonfall passt nicht zu ihrem unsicheren Gang.
„Geh ruhig langsam.“ Was nützt es, wenn Mammá ihre Sorge spürt. Eine Gestalt eilt vorbei, im Laternenschein erblickt Melitta ein Gesicht mit schmalen Lippen, den Blick bodenwärts gerichtet. Sie unterdrückt das Bedürfnis, sich umzudrehen und dem Mann nachzusehen.
„Melitta?“
„Ja?“
„Dieser Kochkurs macht mir wirklich Spaß.“
„Ich weiß, Mammá.“
„Ich finde es schön, dass du mitmachst.“
„Mammá, das hast du falsch verstanden. Ich mache nicht ...“ Melitta verstummt, als sich die Hand, die eben noch locker auf ihrem Arm lag, verkrampft. Seit ihrer Mutter die Erinnerungen und manchmal die richtigen Worte fehlen, spricht ihr Körper eine viel deutlichere Sprache.
„Ja, ich finde den Kurs auch ... interessant“, lügt sie.
„Heißt das, du begleitest mich das nächste Mal? Bereitest du dich mit mir auf diesen Fernsehauftritt vor?“
Melitta schließt die Augen. Sie wird diesem Zander den Kopf abreißen, wenn Mammá ein Leid geschieht. „Möchtest du das wirklich?“
„Zuerst war ich froh, dich loszuwerden. Aber ehrlich gesagt ... ich fand es lustig, dich endlich einmal sprachlos zu erleben.“
„Ach, ja?“
„Melitta. Du bist jung und schön. Selbst wenn du dich wie ein zänkisches Kartoffelweib aufführst, bleibst du doch mein Mädchen. Es schadet dir nicht, unter Leute zu kommen. Du verschwendest ohnehin zu viel Zeit an deine senile Mutter. Vielleicht wäre einer der netten Herren aus dem Kurs ...?“
„Mammá!“
„Ich möchte, dass du ein eigenes Leben führst, Melitta.“
„Ich führe ein eigenes Leben!“
„Nein, das tust du nicht.“
Diesmal legt sich ein Schweigen über sie, das sich federleicht anfühlt. Fast bedauert Melitta, dass die Klinkerfassade ihres Wohnblocks schon vor ihnen auftaucht.
„Wir sind gleich zu Hause.“
„Eins möchte ich noch loswerden, Kind.“
„Ja, Mammá?“
„Ich hasse dieses fade Tiefkühlessen vom Lieferservice.“
Und zum ersten Mal seit Monaten bricht Melitta in lautes Lachen aus.
An Schlaf ist nicht zu denken. Seit Stunden wälzt Julius sich auf seiner Betthälfte hin und her und zählt die vorbeitollenden Scheinwerferlichter an der Zimmerdecke. Zweimal war er im Laufe der Nacht in die Küche geschlichen, um ein Glas Wasser zu trinken. Später musste er aufstehen, weil seine Blase ihn zur Toilette zwang. Noch immer ist er durstig. Ehrlicherweise ist er andauernd durstig.
„Werdet ihr besser sin, als de Lück vum Jørgensen?“
Helgas Stimme klingt erstaunlich wach. Natürlich hat auch sie kein Auge zugetan, trotzdem erträgt sie seine Geister klaglos. Diese Frau ist ein verdammtes Wunder. Bleibt einfach da und begleitet ihn auf seinem Weg zurück in ein normales Leben. Wenn er denn je in der Lage sein sollte, so etwas wie ein normales Leben führen zu können. Er greift nach der schwieligen Hand, die winzige Nester in sein
Weitere Kostenlose Bücher