Härtling, Peter
Gedanken gespielt, ihn für sich zu gewinnen. Aber er war ihr zu ähnlich, und sie fürchtete seine Unruhe, seine Verletzbarkeit, seinen unberechenbaren Zorn. Aus dieser Verwandtschaft kannte sie ihn besser als viele andere. »Und ruheselbstgenügsamkeit – u stätigkeit werde doch endlich den Rastlosen!« schreibt sie Schiller, ihn über den Abschied von Hölderlin unterrichtend. »Er ist ein Rad welches schnell Läuft.«
Der Mutter, die sich wohl in ihren Befürchtungen bestätigt sieht, erläutert er in aller Ruhe die Gründe seines Abschieds, und Charlotte hilft ihm, sie versucht der skeptischen Johanna klarzumachen, weshalb Hölderlin, entgegen ihrem Wunsch, nicht nach Hause kommt, sondern in Jena bleibt; »Hölderlin muß sich so bilden das er einst zum Vorteil des algemeinen guten und schönen mitwürken kann! … – Er ist jetzo in Jena – Auf der Universität in Deutschland die so wohl durch Aufklärung – als durch die Energie der idéen die dort vorzüglich im Schwunge sind sich auszeignet.«
Johanna hatte im Laufe des vergangenen Jahres mehrfach den Versuch unternommen, ihn nach Hause, auf eine Pfarrstelle zu locken. Sie hatte ihren Traum nicht aufgegeben. Doch diesmal erwiderte der Sohn nicht, wie früher, ungenau und ausweichend. Als Johanna ihm mitteilte, in Neckarhausen, einem zwei Kilometer von Nürtingen entfernten Ort, sei eine Pfarre freigeworden und er solle sich um sie bewerben, antwortete er ungewöhnlich entschlossen: »Sie fragen mich, ob ich nicht Lust hätte zur Pfarre in Neckarhausen? Ich gestehe, daß es mir sehr schwer werden würde, jetzt schon von meiner Wanderschaft, und meinen Beschäftigungen, und kleinen Planen zurückzukehren, und mich in ein Verhältnis einzulassen, das doch, soviel Ehrwürdiges und Angenehmes es hat, mit meinen jetzigen Beschäftigungen und mit dem Fortgange meiner Bildung zu unvereinbar ist, als daß es nicht eine mißliche Revolution in meinem Charakter bewirken müßte.« Und er kappt auch gleich eine zweite Verbindung in die heimatliche Vergangenheit. Johanna, bemüht, ihn durch Erinnerungen zu fesseln, hatte ihm Elise Lebret genannt. Auch diesem Mädchen könne er so wieder näherkommen. Sie wußte nicht, welche unmittelbare Liebe er inzwischen mit Wilhelmine erfahren und wie weit er sich von den Studentenliebeleien entfernt hatte. Er ist unterwegs. Niemand, auch Johanna nicht, wird ihn heimholen können: »Meiner Freundin in Tübingen schreibe ich heute noch. Ich gesteh Ihnen, daß ich nach allem, wie ich sie beurteilen muß , nicht wünschen kann, ein engeres Verhältnis mit ihr geknüpft zu haben, oder noch zu knüpfen.« Johanna, unanfechtbar in ihrer Hoffnung, stellt sich um. Sie will den Sohn nicht verlieren. Sie weiß, daß er sie, wie keinen anderen Menschen, braucht. »Gönnen Sie mir den ungestörten Gebrauch meiner Kräfte«, bittet er sie aus Jena. Sie versichert ihm, nach ihrem Vermögen zu helfen. Und sie hilft.
Alles verläuft anders, als er es sich zurechtgelegt hatte. Er besucht zwar regelmäßig die Vorlesungen Fichtes, wird auch hin und wieder in den Professorenklub eingeladen, wo er einmal Goethe und Maler Meyer begegnet, Niethammer nimmt sich seiner weiter an, und Camerer bleibt der Freund, bei dem er sich aussprechen, ausruhen kann. Vermutlich hatte Hölderlin sich mehr erwartet. Er zieht sich zurück, arbeitet an der erweiterten Fassung des »Hyperion« oder schützt diese Arbeit vor, verbringt Abende grübelnd auf seinem Zimmer, ekelt sich vor der Heftigkeit, dem tatenlosen Geschwätz der Studenten.
Was sich in Frankreich ereignete, verfolgte er aufmerksam, doch gleichsam verschwiegen. Er freute sich über die Siege der französischen Truppen, wunderte sich überdas Ausscheiden der Preußen aus der Phalanx der Gegner, bis er begriff, daß sie es nur ihrer polnischen Interessen wegen getan hatten. Es zeichnete sich noch nicht ab, was geschehen würde, nachdem die großen Revolutionäre sich gegenseitig umgebracht hatten. Über Buonaparte wurde schon geredet. Das Direktorium herrschte. Vieles, worauf er, Stäudlin und Hegel gesetzt hatten, schien verloren, verraten. Ein Abglanz davon blieb.
Und er sagte es sich und Camerer viele Male, daß nichts, was je in die Welt getreten sei, je wieder verschwinden könne. So auch dieses neue, alles umfassende Verständnis von Menschlichkeit nicht. Das ist uns alles neu, wie es den Griechen neu war, Camerer.
Noch hilft ihm Schiller. Er überredet Cotta mehr oder weniger, den »Hyperion«
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