Härtling, Peter
dem Hause Gejagten schreibt sie, sie nähe sich ein Kleid, »ganz nach Deinem Geschmack, lila und weiß«.
Henry kennen Sie schon? Hat er sich gut betragen? Hölderlin wird den übrigen Anwesenden vorgestellt. Marie Rätzer gefällt ihm besonders, ihre Aufgeschlossenheit, ihre Offenheit.
Sie unterhalten sich, er erfährt, daß sein Zimmer noch nicht bereit sei und er erst um den 10. Januar ernsthaft mit der Arbeit beginnen könne.
Aber besuchen Sie uns, Henry wird sich freuen.
Ja, sagt Henry. Es tät mich wirklich freuen.
Er wird verabschiedet, ist froh, gehen zu dürfen und unglücklich, nicht in Madame Gontards Nähe sein zu können.
So hat es angefangen. So kann es angefangen haben.
Das Milieu irritierte ihn. So viel vorgeführter Reichtum war ihm neu. Auf den Gedanken, doch noch die Stelle auszuschlagen, kam er nicht. Jakob Gontard hatte ihm 400 Gulden fürs Jahr angeboten. Das war eine großzügige Entlohnung. Um der inneren Unrast zu entgehen, wanderte er nach Homburg, zu Sinclair, der, aus Jena heimgekehrt, mittlerweile am Homburger Hof als Kammerjunker und Vertrauter des Landgrafen diente. Der Weg nach Homburg, noch nie gegangen, war ihm dennoch vertraut: Die sich nicht schroff buckelnden Taunusberge glichen, wenigstens von weitem, denen der Alb. Er wanderte ohne Hast, die Vorfreude auf den Freund genießend, der zwar wußte, daß er in Frankfurt angelangt war, doch seinen Besuch nicht erwartete. Er überraschte Sinclair. Sinclair, stürmisch wie immer, bot ihm die ganze Wohnung als Unterkunft an, führte ihn als liebsten seiner Freunde der Mutter vor, bei der Hölderlin an Neuffers Mutter, die Griechin, dachte (solche Frauen nehmen ihn auf, schützen ihn, setzen selbstverständlich fort, was Johanna begonnen hat, als hätten sie deren Auftrag), sie lädt zum Kaffee ein, doch Sinclair wünscht Wein, auf dieses Wiedersehen müsse man trinken, außerdem müßten Jung und Leutwein gleich verständigt werden.
Ich bitte dich, eins nach dem andern, sagt Frau Sinclair. So kennen Sie ihn auch, nicht wahr, Herr Magister?
Hölderlin bittet sie, ihn nicht bei diesem »dummen Titel« zu nennen. (Im Tübinger Turm ist der alte, verstörte Mann noch grimmiger, redet man ihn mit »Magister« an; den »Herrn Hofbibliothekarius« duldet er, und diesen Titel wird er, ohne die Pflichten dazu, in Homburg erhalten.)
Du mußt bei mir auf der Stube schlafen.
Aber das kleine Eckzimmer ist doch frei, Isaac, dort hätte Herr Hölderlin es bequemer.
Sie müssen verstehen, Mama, wir haben viel nachzuholen. Wie vergingen die ersten Tage in Frankfurt? War Ebels Empfehlung richtig?
Er erzählt zögernd, es gelingt ihm nur schwer, die sich widersprechenden Eindrücke zu fassen.
Kennst du sie?
Wen?
Madame Gontard.
Nicht vom Ansehen, aber ihren Ruhm als Schönheit, als Stern der Frankfurter Gesellschaft.
Ist sie viel in Gesellschaft?
Die Gontards führen ein großes Haus. Von Hofrat Jung wisse er manches über Madame Gontard, daß sie zum Beispiel … Hat sie dich schon gefesselt, Fritz?
Ich muß fortwährend an sie denken, als setzten wir ein Gespräch fort, das wir noch nicht einmal begonnen haben.
Daß sie nach der Geburt ihres ersten Kindes längere Zeit krank war, sich ihr Gemüt verdüsterte, sie hat geweint, wirr gesprochen, selbst ihren Mann nicht erkannt.
Sie war heiter.
Sie ist auch wieder gesund.
Am Abend lernte er endlich Jung kennen und den Pfarrer Leutwein. Beide sind erklärte Demokraten, Anhänger der Republik. Sinclair hatte in Jena so oft von Jung gesprochen, sich auf ihn bezogen, ihn einen väterlichen Anstifter genannt, daß Hölderlin ihn »wegen seinem Jung« verspottet hatte. Sinclairs Vater, ein schottischer Adliger, der den Landgrafen beriet, war schon 1778 gestorben,als Sinclair drei Jahre alt war, und Jung, ebenfalls am Hofe und mit der Witwe bekannt, die sich nach einer Zeit mit einem Herrn von Proeck wieder verheiratete, hatte sich des frühreifen Kindes angenommen, Isaac mehr oder weniger erzogen.
Als wäre er mein zweiter Vater.
Ich hatte auch einen zweiten Vater.
Erzählte Figuren treten tastend ins Leben. Nach den Schilderungen Sinclairs hatte er einen anderen Jung erwartet, einen gutaussehenden, großen, schlanken Feuerkopf, leicht und heftig in seinen Bewegungen. Jung aber war ein gedrungener, fast schon fetter Mann, zu sorgfältig und zu jugendlich gekleidet und das Gesicht matt, schlaff, mit liebevollen Augen und einem wehleidigen Mund. Die Stimme widersprach der äußeren
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