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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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Erscheinung. Ein rabiater, triumphaler Baß. Leutwein hingegen, der Pfarrer, hatte etwas von einem Offizier, sich straffhaltend, mit einer knappen, fahrigen Gestikulation.
    Sie unterhalten sich über ein Thema, das mir bei der Beschäftigung mit den Briefen und Gedichten Sinclairs auffiel: mit welcher absonderlichen Ausschließlichkeit er seine Mutter liebte. Sie blieb die einzige Frau in seinem Leben, sie vergötterte er. Sein Bedürfnis nach Nähe, erotischem Einverständnis, erfüllte sich wahrscheinlich in seiner Freundschaft mit Männern. Manchen von ihnen – so Hölderlin, Seckendorf und Muhrbeck – hielt er die Treue. Ohne seine Mutter jedoch glaubte er nicht leben zu können. Daß sie dennoch einige Tage vor ihm starb, erfuhr er nicht. Er selbst starb auf dem Wiener Kongreß, im April 1815, beim Besuch eines Kleidermagazins, wo er sich, eben zum Major befördert und begierig darauf, mit den Österreichern gegen Napoleon zu kämpfen, seineneue Uniform abholen wollte. Der merkwürdige Tod eines Revolutionärs, der sich, wie viele seiner Kameraden, durch den Fortgang der Geschichte verraten sah.
    Jung war auf ein Sonett zu sprechen gekommen, das Sinclair seiner Mutter, »der Frau Hofrätin«, gewidmet hatte, und Hölderlin hatte Sinclair aufgefordert, es vorzulesen. Es war ein naives, in Schwärmerei mißlungenes Gedicht: »Dich Mutter, schmück’ ich mit dem Blumenkranze, / Den ich mir wandt im Berge und im Tal, / So strahlt auch deiner Jahre ernste Zahl / In ewiger Jugend liebevollem Glanze«, über das es sich kaum zu debattieren lohnte. Leutwein begann ein Bildnis der Heldenmütter zu entwerfen, der aus Leidenschaft Tätigen, die Zukunft ihrer Kinder bereitenden Frauen. Die Bibel kenne sie ebenso wie die griechische Mythologie. Weiber, deren Schatten riesenhaft über die Geschichte fällt, Verzweifelte, Rächerinnen, Liebeshungrige und Haßerfüllte. Löwinnen!
    Er übertreibe, wirft Jung lachend ein, der große Gedanke schrumpfe meistens kläglich auf Tagessorgen, finanziellen Druck und Zwistigkeiten. Die ohne Zweifel bewunderungswürdigen Frauen seien nicht in der Lage, über den Tag hinaus zu planen.
    Das ist nicht wahr! Hölderlin hatte während Leutweins Ausbruch sich vorgestellt, was die Mutter eben treibe. Vielleicht verhandelt sie mit einem Bauern über den Winterkohl. Vielleicht sitzt sie mit der Großmutter und stickt. Vielleicht schreibt sie einen Brief an Breunlin wegen Karl, dessen Unzufriedenheit sie quält. Vielleicht näht sie ein Hemdchen für das Enkelkind. Das ist nicht wahr! Wahrscheinlich haben sie schon heimlich gegen die Väter gelebt, behutsam korrigiert. Allein, sind sie zum größeren Plan, zum Entwurf gezwungen. Sie beginnen den Lebensweg ihrer Kinder über den eigenen Tod hinaus abzustecken. Sie übertragen Hoffnung und Liebe wie Elixiere. Ihre oft wortlose Geduld wird zum festen Grund, auf dem wir die ersten Schritte in die Selbständigkeit gehen. Und die Mädchen wiederum lehren sie die Liebe, die sie verloren haben. Sie zehren von einer Erfahrung, an die sie sich nur noch in schlaflosen Nächten erinnern und schaffen damit Welt.
    Leutwein gestand ihm zu, daß er damit der Wirklichkeit näher gekommen sei. Doch meinen Sie nicht, Herr Hölderlin, daß die Größe, die wir aus der unerforschten Vergangenheit lesen, unvergleichlich wichtig ist?
    Wenn sie, fällt ihm Sinclair ins Wort, für die menschlichen Maße, die wir für unsere Zukunft erhoffen, noch gelten kann, dann wohl.
    Sie gehen schlafen. Sinclair nötigt Hölderlin, in seinem Bett zu schlafen; für ihn sei der Diwan ebenso bequem. Hölderlin ist müde. Er schläft bald ein. Er wacht daran auf, daß ihm eine Hand über den Kopf fährt. Er kann Sinclairs Gesicht in dem Schneelicht erkennen.
    Habe ich dich erschreckt?
    Nein. Ich bin ganz allmählich aus einem angenehmen Traum aufgewacht.
    Aber du hast im Schlaf geseufzt.
    Vielleicht hat deine Hand den Traum geändert?
    Ich wüßte niemanden, den ich lieber zum Freunde haben möchte als dich.
    Geh schlafen, Isaac.
    Sinclair beugt sich über ihn, küsst ihn auf die Stirn. Gute Nacht, Hölder.
    Ob es nicht besser ist, ich zeige mich ab und zu bei den Gontards? fragt er in den nächsten Tagen. Sinclair beschwichtigt ihn. Auch wenn Madame Gontard dies gesagt haben sollte, erwarte sie es nicht. Tagsüber, wenn Sinclair seine Pflichten am Hof erfüllt, holt ihn Jung zu Spaziergängen ab. Hölderlin ließ sich von ihm die politische Situation auseinanderlegen. Jung hatte

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