Härtling, Peter
gefallen«. Marie stammte aus Bern und hatte vier Jahre vor ihm, 1792, ihre Stelle als Erzieherin der Mädchen bei den Gontards angetreten. Sie wußte Bescheid, war in dem großen Bekanntenkreis der Gontards eingeführt, von jungen Männern umschwärmt; sie war auch beim Personal geachtet und konnte, wenn es darauf ankam, Stimmung machen.
»Unsere Seelen lebten nun immer freier und schöner zusammen.« Aus der Melite der ersten Hyperion-Versuche wird Diotima. Sie folgt Stella und Lyda, wiederum eine idealisierte, in die Anbetung entrückte Figur, freilich handelnd einem Helden zugeordnet, ihm auf diese Weise schon verbunden: Geliebte und Verwalterin einer scheinbar unzerstörbaren Kindheit, einer intakten, den Menschen aufnehmenden Natur.
Es war mittlerweile zur Regel geworden, daß Susette, Marie und er, falls die Hausherrin nicht andere Pflichten hatte, eine gute Stunde am Nachmittag musizierten. Ab und zu unterbrachen sie ihr Spiel, unterhielten sich, Susette fragte ihn nach Nürtingen, der Mutter, weshalb Karl nun doch nicht gekommen sei, und Marie wußte die neuesten Aussprüche der Kinder.
Noch wurde er »Herr Hölderlin« genannt, von allen.
Anfang April tauchte unvermutet Schelling auf, der seit einem Vierteljahr ebenfalls als Hofmeister untergekommen und nun mit seinen »beiden Riedeseln«, wie er seine Zöglinge nannte, und deren Vormund unterwegs nach Leipzig war. Er meldete sich vormittags, als Hölderlin Henry im sogenannten Balkonzimmer Stunden gab, platzte in die Stille, derart aufgedreht, daß Henry, der sich über den drolligen Schwaben lustig machte, seine Mutter und Marie Rätzer holte: Sie müßten unbedingt kommen, der Herr Hölderlin habe einen kuriosen Besuch. Der ist vor lauter Aufregung krebsrot im Gesicht und sagt dauernd: ’s isch recht, ’s isch recht, ’s isch recht.
Hölderlin stellte den Freund, angesteckt von dessen Witz, als kommenden Philosophen vor, jenen, der ohne Zweifel den großen Fichte ablösen werde.
Wenn des net d’r Hegel isch, fügte Schelling hinzu. Wir sind miteinander auf dem Stift gewesen.
Sie werden keine Lust haben, sich jetzt weiter mit Henry abzugeben, sagte Susette.
Henry erhob Einspruch.
Wenn du willst, komm halt mit auf mein Zimmer. Die Philosophiererei wird dich schon langweilen. Susette versuchte den Buben zurückzuhalten, aber er ging mit den beiden, blieb auch nach dem Essen bei ihnen. Er verhielt sich so ruhig, daß sie ihn vergaßen.
Ich lasse den Jungen hartnäckig sein, weil ich er sein möchte, weil ich in einer Ecke der Stube sitzen und zuhören will. Ich bin neugierig. Meine Phantasie ist aufgestört.Ich weiß, was viele andere auch wissen, die sich mit Hölderlin beschäftigt haben, daß er und Schelling in Frankfurt wahrscheinlich einen Text besprochen haben, der in der Philosophiegeschichte als »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« gilt, als jenes Fundament aus gedankenvollen Sätzen, auf denen nicht nur Schelling und Hegel ihre Ideengebäude bauten. Und Hölderlin, mit Hyperion unterwegs, den Plan für den »Empedokles« schon gefaßt, hat daran entscheidend mitgewirkt. Der die Tat scheuende Poet als Denker. Ein Teil dieses Programms ist in Hegels Handschrift überliefert. Die Vorlage dazu hat er von Schelling bekommen.
Es sind kaum mehr als zwei Druckseiten.
Begonnen hat das Gespräch, als Schelling den Freund von Tübingen nach Nürtingen begleitete. Schelling war dann noch einmal, ein halbes Jahr danach, kurz ehe Hölderlin nach Frankfurt abreiste, in Nürtingen gewesen, und sie hatten weiterdiskutiert.
Ich will anfangen, hatte Schelling gesagt, ich will wissen, wohin ich denke.
Alles, was Kant, Fichte, die Griechen, Rousseau, die Ereignisse der Revolution in ihnen ausgelöst, woran sie sich gerieben hatten, wurde wiederholt, tastend formuliert, und es kam hinzu, was den einzelnen bewegt hatte, worin sie sich unterschieden – alle drei Stimmen. Die Blätter, der »Entwurf«, summieren ihre Tübinger Gemeinsamkeit, sie verklammern den Anfang. Von hier aus trennen sie sich, doch jeder nimmt sein Thema mit.
Ob Schelling ein Manuskript mitbrachte, das er langsam, Satz für Satz, vorlas, das sie dann korrigierten, neu schrieben, ob einer von ihnen während des Gesprächs notierte oder ob sie am Ende gemeinsam formulierten, das istgleich. Es geht mir um den Geist der Dialoge, dem Henry lauschte. Das meiste verstand er nicht, aber der Ernst der Männer, ihre Leidenschaft fesselten ihn.
Sie haben fast gestritten,
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