Härtling, Peter
kürzen, daß man mit einem Band auskomme; er hatte sich das Manuskript noch einmal zurückerbeten. So ist er beschäftigt. Susette wird ihn beobachtet haben; und er sie. Sie verbringen Tage im Garten: mit Spielen, mit Picknicks, sie lassen sich im Schatten von Bäumen nieder, werden zu Bildern, an die sich jeder von uns erinnert.
Gontard wird, wenn er abends aus der Stadt kommt, zum Hiobsboten. Am 6. Juni hatte die französische Armee die Lahn erreicht. Man fürchtete den Vorstoß auf Frankfurt. Doch zehn Tage danach sprang Gontard strahlend aus der Kutsche, von allen schon erwartet: Erzherzog Karl habe die Republikaner bei Wetzlar geschlagen. Es war nur ein Aufschub. Hölderlin unterließ es, mit Gontard oder den Damen über den Krieg zu reden, aber als er einmal, auf einem Spaziergang mit Susette und Marie, bemerkte: im Grunde wünsche er sich ja den Sieg der Franzosen, auch wenn er den Krieg hasse, denn erst nach ihm könne das Volk seine Freiheit finden, seine Rechte bekommen, als er das eher beiläufig sagte, entgegnete ihm Susette erschreckt und mit aller Schärfe: Sie wünschen doch wohl nicht, Herr Hölderlin, daß die Kinder, mein Mann und ich unsere Existenz verlieren.
Aber nein! Das kann ich nicht wünschen. Und das ist auch nicht zu erwarten.
Es ist besser, wir vergessen den Krieg, sagte Marie, dann vergißt er auch uns. Er hätte ihr antworten wollen, daß sich ein solcher Krieg um solche Leichtfertigkeit nicht kümmre, aber sie hatte einen Punkt setzen wollen, so gab er nach.
Ich weiß nicht, wie es begann, ob sie sich schon hier, in diesem sommerlichen Refugium, ihre Liebe gestanden. Ob sie die gegenseitige Aufmerksamkeit, die wachsende Spannung auskosteten, ohne sie auszusprechen. Es sind, das kennt man, einfache Dinge, die ihn aufregen und schmerzen: Daß ihre Schulter beim Spazierengehen seinen Armberührt; daß ihr Lächeln anders ist als sonst; daß sie ihn, gar nicht wissentlich, mein Lieber nennt; daß sie, nachdem er vorgelesen hat, für einen Augenblick seine Hand hält.
Sie muß wachsam sein, wird es bleiben. Geredet wird bald; die Gerüchte dringen nicht bis zu Gontard. Und Marie, die ein offenes Ohr fürs Haus hat, Stimmungen abschätzt, gelingt es zu dämpfen, zu korrigieren. Sie erpreßt sogar: Wer solche Gemeinheiten weiterrede, müsse mit seiner Entlassung rechnen. Da verstünde Madame Gontard keinen Spaß.
Es könnte eine Liebesgeschichte sein wie viele andere: Heimlich und kompliziert, gegen die Moral und geschützt von einigen Verständigen. Doch er schlägt einen anderen, einen hohen Ton an, und sie akzeptiert ihn. Er macht aus dem Bild der Geliebten ein Inbild: Diotima. Schon ist sie, ohne es zu ahnen, eingegangen in seine Poesie. Das Kümmerliche, das Tägliche packt sie erst, nachdem er aus dem Haus vertrieben ist, sie sich heimlich treffen und schreiben. Die Heimlichkeit jetzt dagegen ist natürlich.
Neuffer offenbart er als erstem seine neue Liebe: »Ich bin in einer neuen Welt. Ich konnte wohl sonst glauben, ich wisse, was schön und gut sei, aber seit ichs sehe, möcht ich lachen über all mein Wissen. Lieber Freund! Es gibt ein Wesen auf der Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann und wird, und dann noch sehn, wie schülerhaft all unser Denken und Verstehen vor der Natur sich gegenüber befindet. Lieblichkeit und Hoheit, und Ruh und Leben, und Geist und Gemüt und Gestalt ist Ein seliges Eins in diesem Wesen.« Die Stilisierung wappnet ihn gegen die einfachen Empfindungen und Wünsche. Es scheint, als entziehe er sich schon jetzt, versuche gar nicht, sich zu nähern. Der Altar ist zu hoch.Keine Begehrlichkeit, keine erotische Wendung, nicht Haut noch Wärme: ein idealisches Paar in einem drei Jahre dauernden platonischen Verhältnis. Erfüllung für dürre Philologenphantasie.
So kann es nicht gewesen sein. So war es nicht. Sie sagten vermutlich schon in diesem ersten Jahr Du zueinander. Was vorausging, läßt sich erfinden, erzählen. Es kann eine Geschichte sein von Flucht; von schlimmer und dennoch genossener Anspannung; von geteilter Angst und Selbstvergessen.
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II
Die neunte Geschichte
Die Gartentage gingen zu Ende. Gontard holte die Familie in die Stadt zurück. Die kaiserlichen Truppen müssen an mehreren Fronten kämpfen. In Italien operiert Buonaparte erfolgreich; im Mai hatte er Mailand erobert. Ende Juni rückt Moreau mit seinen Truppen bei Straßburg über den Rhein, dringt in Württemberg ein. Jourdan, der mit seiner Nordarmee
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