Härtling, Peter
Vorstellungen einer, der im sechsten Semester Jura studiert oder einer, der, das Studium abgebrochen, als unscheinbarer Helfer einem Staatssekretär die Tasche trägt, gelegentlich Einfälle zu Reden beisteuert – doch nie einer, der vorn am Tisch sitzt, vorschlägt, verwirft, entscheidet.
Dieser Kongreß muß im Ganzen überaus jung gewesen sein, in seinem Eifer, seinen Vorsätzen, seinen Entwürfen. Die Länder wollten nach sechs Jahren Krieg nichts als Frieden. Viele Landschaften waren verwüstet und verarmt. Unter welchen Bedingungen der Friede zustandekomme, war den meisten gleichgültig; nicht den Jungen: Sie dachten an eine neue, menschenwürdigere Verfassung des Friedens, erhofften sich die Ausbreitung republikanischen Denkens, ersehnten den Umsturz. Dennoch waren die Rastatter Unterhändler, die sich für die wahren Friedenssprecher hielten, nur Spielpuppen der Mächtigen. Buonaparte wird bald herrschen. Und die Österreicher mißtrauen der Stärke des Direktoriums. 1799 beginnen die Kämpfe wieder, der angekündigte Frieden konnte nicht einmal ausprobiert werden. Der Kongreß wird abgebrochen.)
Es könnte doch ein erträgliches Jahr werden. Sinclairs Enthusiasmus springt über. Doktor Sömmering, von dem Hölderlin sich weiter regelmäßig untersuchen läßt, wundert sich über die unvermutete Gesundung, empfiehlt ihm spaßeshalber noch einige Atemzüge Homburger Luft mehr.
Hölderlin weiß es besser: Manchmal, wenn er allein durch die Stadt geht oder mit den Kindern im Garten spielt, hat er das Gefühl, die Erde breche unter ihm auf und er laufe über eine Schaumschicht, lautlos, alle Geräusche entfernen sich; er meint, er spreche und werde nichtgehört. Er schämt sich und verflucht die Halluzinationen, wenn ihn dann die kleine Male zurechtweist: Brüll nicht so, Hölder. Ich bin doch nicht taub wie die Tante Borkenstein.
Sie können nicht, wie Susette es versprochen hatte, schon im frühesten Frühling auf den Adlerflychtschen Hof ziehen, sondern, weil Gontard die Geschäfte in der Stadt halten und die Miete ihm zu hoch wurde, erst im Mai. Es läßt sich ohnehin nichts wiederholen, auch die sommerliche Erinnerung an das Landhaus nicht. Von Beruhigung, Zurückgezogenheit und heimlicher Gemeinsamkeit mit Susette kann kaum die Rede sein. Gontard installierte ein Netz von Spitzeln, zog viele der Bediensteten ins Vertrauen, sicherte ihnen Prämien zu für jede nützliche Information, »den Hofmeister Hölderlin betreffend«. Das reichte. Wo immer sie sich begegneten, auch in Begleitung der Kinder, machten sich Leute zu schaffen; saßen sie in ihrer Laube, tauchte prompt ein Gärtner auf; war er abends bei ihr im Salon, wurde ab und zu »versehentlich« die Tür geöffnet, wollte die Haushälterin unbedingt zu diesem Zeitpunkt wissen, ob denn am nächsten Sonntag Gäste erwartet würden.
Sie trieben ihn vor sich her. Ihre Neugier fühlte er wie einen häßlichen Ausschlag auf der Haut. Susette, die sich über die Gemeinheiten hinwegsetzen wollte, wurde kleinlaut, vorsichtiger. Sie ertappten sich dabei, daß sie, selbst wenn einmal niemand in der Nähe war, flüsterten, lachten hilflos darüber und ließen sich, gegen ihren Vorsatz, einschüchtern.
Die Kinder, ausgespart aus dem perfiden Spiel, litten dennoch unter der Nervosität und Angespanntheit ihres Lehrers. Male, die Kleinste, die hin und wieder im Zimmerspielte, wenn er mit Henry Plutarch las, schnitt ihm ein Papierdeckchen nach dem anderen aus, und er legte sie alle sorgsam auf das Fensterbrett. Du bist lieb. Es geht mir wieder viel besser.
In einer letzten Anstrengung, als wolle sie ihren Mann herausfordern, verlangt Susette, daß er die Abende wieder bei ihr verbringe. Sie möchte, daß er ihr, wie früher, vorlese, daß man sich ohne Furcht und Bedrückung unterhalte.
Sie spielen, was gewesen ist und halten es nicht lange aus. Vor der Tür wird getuschelt, sind Schritte zu hören. Susette geht hinaus, schickt die Spione fort. Die freilich werden von ihrem Herrn angespornt und sind darum so frech, daß sie bald zurückkommen.
Lies laut, sagt sie, sie sollen es hören. Sie werden es nicht verstehen.
Er liest. Sie spricht es nach: »Schönes Leben! Du liegst krank, und das Herz ist mir / Müd vom Weinen und schon dämmert die Furcht in mir, / Doch, doch kann ich nicht glauben, / Daß du sterbest, solang du liebst.«
Lies es noch einmal, damit sie es begreifen. Es ist still vorm Zimmer. Er beugt sich über den Tisch, zieht sie zu sich. Sie
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