Härtling, Peter
braucht. Er hat Susette einige Male an der Hecke, wie verabredet, getroffen, sie haben sich angstvoll und heftig umarmt, und es kam ihm vor, als stünden sie in einer Arena vor tausenden tobenden, schmähenden Zuschauern, besudelt und ausgesetzt. Sie hat ihm immer wieder geschrieben, und er ihr geantwortet, als der zweite Band des »Hyperion« ohnehin schon verspätet erschienen und es ihm schon gleichgültig war, mit ihm den Ruhm zu gewinnen, auf den er so ausschließlich gesetzt hatte: »Es ist himmelschreiend, wenn wir denken müssen, daß wir beide mit unsern besten Kräften vielleicht vergehen müssen, weil wir uns fehlen …«
Am 2. März 1800 stirbt Breunlin. Die Schwester zieht zur Mutter und Großmutter nach Nürtingen. Es ist wieder, wie es war: die drei Weiber seiner Kindheit. Ich muß gehen, sagt er zu Sinclair. Diesmal widerspricht der Freund ihm nicht. Nach Nürtingen?
Nach Nürtingen oder nach Stuttgart zu Landauer. Aber heim.
Er schreibt an Susette, verspricht ihr, wie ausgemacht am 8. Mai an der Hecke zu sein, zur verabredeten Stunde, ein letztes Mal, wenn du nicht Gäste hast, wie so oft, und durch Billigeres aufgehalten bist.
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V
Die dreizehnte Geschichte
Sie haben diese Liebe der hastigen Rendezvous, der flehenden und bestreitenden Briefe lange ertragen, fast zwei Jahre, vom September 1798 bis zum Mai 1800. Sie haben von Begegnung zu Begegnung gehungert, sich nichts erfüllen können. Und am Ende waren sie zwei Stimmen ohne Körper. Vielleicht würde ihn der wieder ausgebrochene Krieg aufhalten. Moreaus Truppen sind vom Oberrhein bis tief hinein nach Oberschwaben vorgedrungen. Aber er hat sich fest vorgenommen, sich zu verabschieden, so weit fortzugehen, wie es ihm die Kriegshandlungen eben erlauben, wenigstens bis Markgröningen oder Löchgau, zu den Majers.
Er muß weg. Er ist schon auf dem Sprung.
Jede seiner Bewegungen verlangsamt sich. Die Landschaft hält still. Sie hatte gelärmt, mit Farben geprotzt. Jetzt war sie allein für ihn da. Den Weg kannte er auswendig, eine einfache Strophe.
Er sieht schon das Dach des Hauses, die große Laterne am Weg, unter der er abends einige Male für einen Augenblick gestanden hatte, damit Susette ihn sehe. Er weiß, sie steht am Fenster, wartet, bis er am Beginn der Hecke auftaucht. Nun muß er anhalten und warten, bis sie am Eingang erscheint. Er hört die Kinder. Sie spielen in dem schattigen Gartenstück zwischen Haus und Wirtschaftsgebäude.
Sie steht in der Tür, trägt das weiße Kleid mit der lila Borte, ihm zuliebe, und wenn sie, wie absichtslos, über den Rasen schlendert, manchmal anhält, muß er die Hecke entlanggehen, zu dem schmalen Durchschlupf neben dem Pavillon. Da wartet sie schon. Sie steht mit dem Rücken zu ihm.Sie hört seinen Schritt, wendet sich um. Erst können sie nicht sprechen. Sie nimmt seine Hand, führt sie zum Mund, küßt sie.
Gehst du? fragt sie. Dann sagt sie: Geh nicht. Er kann nicht antworten, zieht hilflos die Schultern hoch, sie fragt: Wohin soll ich dir schreiben?
Schreib nicht.
Ich werde ersticken, Hölder.
Ich weiß nicht, wo ich leben werde.
Laß es mich doch wissen.
Ich werde keine Boten haben.
Über Sinclair.
Vielleicht.
Der Gärtner kommt aus der Scheuer auf sie zu.
Hölderlin zieht ein Blatt aus der Weste.
Es ist für dich.
Sie gibt ihm ihren Brief.
Lies ihn zu Hause, nicht jetzt gleich, Hölder, ich hab ihn gestern abend geschrieben, als ich nicht wußte, ob du kommen würdest.
Der Gärtner bleibt stehen.
Leb wohl.
Sie küßt ihn.
Achte auf dich, Lieber.
Ja.
Er läuft unvermittelt los, sie tritt in die Hecke zurück, als wolle sie da festwachsen.
Er liest, gegen ihre Bitte, den Brief unterwegs, im Gehen, liest ihn immer wieder, redet ihn sich laut vor. Er redet mit ihrer Stimme: »Wirst Du nun kommen! – – – Die ganze Gegend ist stumm, und leer, ohne Dich! und ich bin so voll Angst wie werde ich die starken Dir entgegenwallendenGefühle, wieder in den Busen verschließen und bewahren? – wenn Du nicht kömmst! – – – Und wenn Du kömmst! ist es auch Schwer das Gleichgewicht zu halten und nicht lebendig zu fühlen. Versprich mir daß Du nicht zurückkommen, und ruhig wieder von hier gehen willst, denn wenn ich dieß nicht weiß, komme ich in der grösten Spannung und Unruhe bis morgen früh nicht vom Fenster, und am Ende müssen wir doch wieder ruhig werden, drum laß uns mit Zuversicht unsern Weg gehen und uns in unsern Schmerz noch glücklich fühlen und
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