Härtling, Peter
holen?
Noi, jetzt net.
Wieder begleiten ihn alle drei Frauen die Stiege unters Dach hinauf. Dort habe er sein Zimmer. Die Mutter, sagt Rike, habe darauf bestanden, daß man es eigens für ihn einrichte und freihalte. Die Kammer ist winzig, gerade so lang wie ein Bett und breit genug für Tisch, Stuhl und eine niedrige Stellage, auf der Krug und Waschschüssel stehen. Es ist sehr heiß.
Sie wollen nicht gehen, wollen ihn ansehen, ihn reden hören. Noch einmal betasten und umarmen sie ihn.
Du warst schon lang weg.
Ja.
Jetzt bleibsch e Weile.
Das besprechen wir morgen.
Er drängt sie aus dem Zimmer, schiebt den Riegel vor, zieht sich ganz aus, atmet gegen die Hitze, wäscht sich, aber auch das Wasser ist abgestanden und warm, legt sich aufs Bett. Sie flüstern. Er kann sich denken, was sie reden:
Schlecht sieht er aus.
Wie ein alter Mann mit seinen dreißig Jahren.
Was haben sie bloß mit ihm angestellt?
Das Gesicht ist schon voller Falten.
Er isch nimmer schö.
Auf sei Art doch no.
Er isch krank.
Jetzt laß i den Fritz nimmer fort.
Er schläft lange, wacht ständig aus jagenden, fast bilderlosen Träumen auf, weiß dann nicht, wo er ist, muß es sich erklären, schläft wieder ein, hört wieder das Getuschel, auch noch als es dunkel ist, und manchmal tastende Schritte und Atmen vor der Tür.
Johanna will ihn nicht gleich wieder ziehen lassen, auch nach Stuttgart nicht.
Aber das sei mit Landauer schon besprochen.
Er müsse sich auskurieren. Auf ihre Bitte läßt er sich von Doktor Planck untersuchen, der eine generelle Schwächung feststellt.
Ob er die Nervenschmerzen dauernd habe oder ob sie in Perioden wiederkehrten?
Sie quälten ihn seit Wochen ohne Unterbrechung.
Ob nur der Kopf schmerze?
Das wechsle. Manchmal schmerzten auch die Arme und der Rücken.
Ob er Halluzinationen habe?
Oft, und manchmal scheine es ihm, er trete aus sich heraus. Dies kennzeichne einen hohen Grad von Erschöpfung.
Johanna, Kraz und Köstlin haben ihn in Nürtingen berühmtgeredet. Jeder weiß, daß seine Gedichte in Schillers, Stäudlins, Neuffers Almanachen erschienen sind. Kaum einer hat sie gelesen.
Des isch au besser, sagt Kraz, die tätet staune und nix verstehe.
Vorsichtig erkundigt sich Köstlin nach seiner republikanischen Gesinnung. In Nürtingen gebe es allenfalls ein Dutzend Republikaner und die seien allesamt Spinner. Die Österreicher und die Franzosen, alle beide, hätten so auf die Leute eingehaust, daß man nur noch den Frieden und eine freundliche Herrschaft wünsche. Mehr nicht. Ruhe, sag ich dir. Und ihr Demokraten gebt ja keine.
Frieden schon, Verehrter, doch Ruhe nicht. Das ist zweierlei.
Zehn Tage später bricht er nach Stuttgart auf. Er hat den Vorsatz, dort, in der Obhut Landauers, »eine Zeit im Frieden zu leben und ungestörter als bisher mein Tagewerk tun zu können.«
Er kannte das Haus der Landauers aus seiner Zeit mit Stäudlin und Neuffer, es war eines der stattlichsten am Großen Graben (der heutigen Königsstraße), neben dem Gymnasium illustre und an der Hauptwache, mit drei Stockwerken, dem geräumigen Tuchladen im Parterre und an der Rückseite eines kleinen, aber üppigen, von den Mauern der umliegenden Häuser eingeschlossenen Gartens. Und obwohl die Neuffers schon damals mit den Landauers verkehrten, war er nie in das Haus eingeladen worden.
Die große Familie nahm ihn selbstverständlich auf.
Christian Landauers Bruder Christoph war einige Tage zuvor gestorben, und der alte Vater lag krank. Die Trauer dämpfte aber nicht die Herzlichkeit. Er hatte mit Landauer abgesprochen, für sein Logis zu zahlen, und Landauer wiederum sollte ihm bescheinigen, daß er als Lehrer der vier Kinder angestellt sei, von denen das Jüngste freilich noch kein Jahr und das Älteste eben sechs war. So konnte ihm das Consistorium nichts anhaben.
Sein Zimmer im zweiten Stock ging zum Garten. Hierwollte er sich auf längere Zeit einnisten. Es kann sein, sagte er zu Neuffer, der ihn gleich besuchte und ihm mit seinem Überschwang lästig war, daß mir eine Rast gewährt ist. Er würde noch einmal schreiben können, ohne Irritationen, »wie daheim«. Er hatte, sagte er sich, die Hälfte des Lebens hinter sich, nur Fluchten, nur Niederlagen, ein Dasein als Gast und Domestik. Hier befand er sich unter Freunden. Er richtete sich mit der Hilfe von Christian und Luise Landauer in seiner »kleinen Wirtschaft« ein, war mit allem zufrieden, nur fehlte ihm ein Schreibtisch.
Zum Schreiben brauch ich
Weitere Kostenlose Bücher