Härtling, Peter
rollte sich der Blütenteppich über Gärten, Baumwiesen und Weinbergen aus. Er hatte viel rasten müssen, manchmal war ihm jeder Schritt schwergefallen. Die vergangenen Wochen stauten sich zu einer Schicht von ungenauen Bildern. Er redete mit sich wie mit einem Kind: Du bist nicht brav gewesen. Du hast nicht auf dich aufgepaßt. Hättest du nur auf den Landauer gehört.
In Hülben, als es nicht mehr weit zur Neuffener Steig war, und er Nürtingen schon im Tal hätte liegen sehen können, stellte sich ihm ein Gendarm in den Weg. Der Mann war sichtlich übel gelaunt, brauchte jemanden, an dem er seine Wut auslassen konnte.
Zeigen Sie mir Ihre Papiere.
Das ist mir noch nie passiert.
Ihre Papiere.
Ich bin von hier.
Von Hülben?
Nein, von Nürtingen.
Die Papiere, aber geschwind.
Er stößt den Gendarmen vor die Brust, der greift zum Säbel.
Stehen bleiben!
Endlich bricht, was er geschluckt, was ihn gewurmt hatte, aus ihm heraus. Er sieht und hört sich selber zu: Auf dich hab ich gewartet, du Hanswurst. Grad auf dich. Du mußt mir über den Weg laufen. Ja, die Welt ist voller Büttel. An jeder Ecke lauert einer. Im Auftrag seines Herrn, vor den Mächtigen zu dienern, die Schwachen zu treten. Wenn schon der Gott sich nicht zu erkennen gibt, dann soll’s wenigstens der König der Herzog der Landgraf der Kurfürst sein. Oder der Bischof. Oder der Herr Professor. Oder der Hofrat. Oder der Herr Kammerrat. Und wenn der sich nicht zeigt, wenigstens der Schultheiß. Vor einem müßt ihr euch krumm machen. Trifft euch auch nur ein Hauch von Freiheit, bekommt ihr die Schwindsucht. Nicht die! Nein. Die nicht! Jede Kammer wird nach euerm Verstand zum Gefängnis, jeder, der euch nicht weicht, zum Gefangenen. Die Herren findet ihr leicht, die Knechte ebenso. Die Welt schüttelt euch nicht ab. Die Revolution hat es nicht geschafft. Überall habt ihr eure Pfründen. Und ich fürcht, selbst die Freiheit werdet ihr schützen mit eurer Enge, werdet sie kleindenken mit euerm Verstand und wohnlich machen mit Zellen und Kasematten – ja, ihr werdet es schaffen.
Der Gendarm dreht ihm den Arm so auf den Rücken, daß er dem Schmerz davonlaufen möchte.
Der feine Herr kann ja springen, wenn er will.
Es sagt nichts mehr.
Aber einer der Gendarmen auf der Wache kennt Hölderlin.
Ich bin der Steidle. Meine Mutter hat auch an der Neckarsteige gewohnt.
Es ist, erklärt er seinen Kameraden, der Magister Hölderlin, der Stiefsohn vom Bürgermeister Gok.
Ganget Se no, des war e Versehe.
Der Grobian entschuldigt sich nicht, geht vor ihm wortlos aus dem Wachraum. Die Wut ist weg. Langsam trottet er die Steige hinunter, das blühende Tal vor sich, Neuffen, Linsenhofen, Frickenhausen und, im Dunst aufgehend, die Nürtinger Stadtkirche.
I komm hoim, sagt er laut.
»Heimzugehen, wo bekannt blühende Wege mir sind, / Dort zu besuchen das Land und die schönen Tale des Neckars, / Und die Wälder, das Grün heiliger Bäume, wo gern / Sich die Eiche gesellt mit stillen Birken und Buchen, / Und in Bergen ein Ort freundlich gefangen dich nimmt.«
Zu seinem Erstaunen macht ihm Johanna keine Vorwürfe, fragt ihn nicht aus. Sie hat sich anscheinend daran gewöhnt, daß er so heimkommt.
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VIII
Stimmen von gestern
Johanna nimmt an, er habe keine Kraft mehr, von neuem aufzubrechen. Er solle sich erholen und dann dem Consistorium seinen guten Willen mitteilen. Es werde ihn auf Dauer nicht mehr freistellen. Dann müsse er eine Pfarrstelle annehmen. Liebevoll richtet sie ihm seine Kammer ein. Den neuen teuren Schreibtisch, der unbenutzt bei Landauer steht, will sie nach Nürtingen spedieren lassen, aber er untersagt es ihr. Köstlin weiß von einer freien Pfarrstelle in Neckartailfingen; Johanna drängt den Sohn, sich darum zu bemühen. Er lehnt ab. So weit bin i no net. Sie hätte merken können, daß er nur Station macht, nun auch noch vor der Schweizer Niederlage davonläuft, nicht daheim bleiben kann, sich, bei einem kurzen Besuch in Stuttgart, wieder nach einer Stelle im Ausland erkundigt. Das will sie nicht wissen.
Unterhaltungen mit den Nürtinger Freunden weicht er aus. Er wendet sich seiner »besseren« Vergangenheit zu. Charlotte von Kalb, unterwegs wie er, kaum mehr in Waltershausen, kränklich und von finanziellen Sorgen geplagt, schreibt ihm aus Mainz, nachdem sie den »Hyperion« gelesen hat. Die geschriebene Hast erinnert ihn an die Zeit bei Kalbs. Das möchte er nicht. »Es ist wohl wunderbar daß mit dem reinsten Egoismus
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