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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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eingeschlagen hatte. Die Kälte drang ihm bis in die Knochen; selbst wenn er in warmen Gasthöfen schlief, wachte er am Schüttelfrost auf. Er fürchtete, krank zu werden. Er war Johanna dankbar, daß sie ihm noch einen Mantel hatte nähen lassen, ein ungefüges Stück, das ihm, schwer von Nässe, um die Knieschlappte. Doch nachts, wenn er sich darin einrollte, trocknete der klamme Stoff an ihm.
    Er hatte sich daran gewöhnt, Französisch zu sprechen und gleich als Allemand erkannt zu werden. In einem Fall hatte es ihm geholfen, Ausländer zu sein. Doubs und Saône waren weit über ihre Ufer getreten, schoben dünne Schollen über den Weg. So mußte der Neckar gewütet haben, als der zweite Vater sich den Tod holte. Unweit von Châlon wurde er von zwei Männern aufgehalten, die ihn mit ihren Gewehren bedrohten. Sie verlangten seine Reisetasche. Er überlegte, ob er die Pistole ziehen sollte, unterließ es, hielt die Reisetasche fest – sie fragten ihn, woher er komme. Aus Stuttgart. Er befinde sich auf dem Weg nach Bordeaux. Also ein Royalist, ein Königstreuer. Er antwortete nicht. Einer der Männer sagte, er habe in Rottenburg gedient, als Réfugié. Es sei schon eine Weile her. Haben Sie mit den Österreichern gekämpft? Hölderlin antwortete nicht, gab vor, schlecht zu verstehen. Sie ließen ihn ziehen, einem Kameraden wollten sie seine Habseligkeiten nicht abnehmen.
    So also sah es auch in der Republik aus. Das hatte er nicht geahnt. Die Republik hatte ein räudiges Fell, voller Ungeziefer, und sie schien sich nur schwach wehren zu können, denn wo immer er sich in Gespräche einließ, vor allem mit Bauern, bekam er Widerwillen gegen die Revolution und die Demokratie zu hören. Buonaparte – vielleicht. Ihm erschien es, als wandere er durch eine von Krankheiten heimgesuchte Gegend und könnte sich anstecken. Wie oft hatte er behauptet, selbst der gute Krieg erzeuge Gemeinheit. Das waren eher phantasievolle Überlegungen gewesen. Jetzt erfuhr er es. Mit niemandem konnte er reden, sich von dem Alp erlösen. Er gewöhnte sich daran zuschweigen, oft, wenn er Gefahren vermutete, den Stummen zu spielen, den wandernden Blöden, und die Stimme, die in ihm fortwährend redete, wurde immer schriller.
    Nach neun Tagen erreichte er, wie es ihm vorgeschrieben war, Lyon, meldete sich sogleich auf der Gendarmerie. Er atmete auf, nahm ein Zimmer im Hôtel du Commerce, das bei weitem wohnlicher war als alle Unterkünfte zuvor. Hier konnte er sich ruhiger unterhalten, die meisten setzten auf die Republik und auf den Ersten Konsul, Buonaparte. Er hörte lieber zu, gab seine Meinung nie zu erkennen. Er nahm sich vor, eine Woche auszuruhen. Von allen, denen er erzählte, daß er nach Bordeaux wollte, wurde er gewarnt. Die Berge der Auvergne lägen unter tiefem Schnee, dort seien selbst die Hirten zu Banditen geworden, weil sie keinen Unterhalt mehr hätten. Die Gendarmerie gestattete ihm einen Aufenthalt von nur vier Tagen, was ihn derart in Wut brachte, daß er bereits einen Tag später weiterzog. Er hatte sechshundert Kilometer vor sich.
    Manchmal zählte er seine Schritte, stundenlang. Manchmal hatte er die Schmerzen gespürt, in den Beinen, im Rücken, im Kopf; manchmal nicht, da sein ganzer Körper allmählich schmerzte, und er sich daran gewöhnte.
    Er ist achtzehn Tage, achtzehn Nächte unterwegs.
    Was er wahrnimmt, ist Schnee, sind Wälder, schmale rutschige Wege, Menschen, deren Armut er wittert, aber er gleicht sich ihnen immer mehr an, seine Empfindungen schwinden, er schläft, stets angespannt und lauernd, in Hirtenhütten, Scheunen, kleinen Dorfgasthöfen. Den Aufstieg zu den Monts Dômes, ins Bergland der Auvergne, merkt er kaum, doch auf den Höhen muß er sich durch einen Schneesturm kämpfen. Hier oben gibt es in Trümmer geschossene, von ihren Bewohnern verlassene Weiler, indenen Hunde hausen, die vor Hunger den Mut von Wölfen haben. Zweimal muß er Rudel mit Schüssen vertreiben.
    In einem dieser Weiler sucht er Unterschlupf in einem leerstehenden Haus, dessen Dach zerschossen ist. Er ist nicht allein. In dem anderen Raum lagert ein Dutzend Männer, die Gesichter vom Schmutz unkenntlich, die Hände und Arme überzogen von Krätze – es schreckt ihn nicht mehr, alle sind dreckig und grindig, grau vom Winter, der nicht endet. Sie rufen ihn, bieten ihm Tee an, den sie auf einer Feuerstelle kochen. Er stellt sich taub, stumm, hat keine Angst mehr. Einer der Männer, der eine zerlumpte Uniform trägt und dem

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