Härtling, Peter
Jeder schlägt die Augen nieder, / Und der hohen Freuden Lieder / Schalle heute keines.« Es warlängst Nacht; »es war eine schöne mondhelle Nacht, da ich Tübingen verließ … Wir schieden; an der Pforte des Closters umarmten wir uns noch einmal und Klopstoks hohes ›Freiheit Silberton dem Ohre‹ im Munde zog ich fürbaß. Es schien, als hätten die Sternlein des Himmels den Triumf unsrer Freundschaft mitansehen wollen, so vollzälig standen sie am Gewölbe des heiteren Himmels. Wie mir so wol u. so weh war, Trennung u. Freiheit, nie fühlt ich diese gemischten Gefühle so innig.«
(Ob sich dem scheidenden Magenau nicht die Gefühle der Trennung und Freiheit »innig« gemischt haben? Er schrieb bemüht, und die Sprache war ihm oft nicht zu Willen. Meinte er es so, wie er es schrieb, wäre es, gerade nach diesem Abend, an dem aus ungemischtem Gefühl auf die Freiheit gesungen und geredet wurde, höchst verräterisch: die Ersehnte ist, scheint es, gar nicht so willkommen. Sie beunruhigt, macht unsicher. Die gemischten Gefühle haben ihren Grund.)
Den Sommer teilt Hölderlin noch mit Neuffer.
Er ist lustlos, schreibt wenig, meidet es, Elise zu sehen, ihre Koketterie verstärkt seinen Trübsinn; es verstimmt ihn, nicht Herr seiner Existenz sein zu können.
Warum brauche ich Abschiede, um mein Leben zu ändern, fragt er Hegel, bin ich zu schwach, zu feige?
Hegel versucht vergebens, ihm seine Grübeleien auszureden.
Ich bin zu nichts fähig, nicht zu Liebe, nicht zu Freundschaft.
Er wisse niemanden, der zum Freund mehr begabt sei als er, sagt Hegel.
Dann aber nicht zum Liebhaber.
Hegel, mit dem er viel unterwegs ist, weicht allen Andeutungen, die Elise meinen, aus.
Die Freunde haben diese Affäre längst als ein schleichendes Leiden definiert. Es dauert nun schon das dritte Jahr. Hölderlin fällt es ohnehin nicht schwer, in Krankheiten zu fliehen, sich mit einer morgendlichen Kolik und nachmittäglichen Kopfschmerzen vor den Forderungen seiner Umgebung zu schützen. Da sie ihn gern haben, spielen sie mit seinen Eigenarten.
Manchmal, im Sommer, flieht er die andern, sucht sich einen geschützten Platz am Waldrand, legt sich ins Gras, auf den Rücken, die Hände unterm Kopf, und sieht sich, wie damals im Grasgarten, in den Himmel hinein, schiebt mit seinen Blicken die Wolken, spürt den unendlichen Raum, holt Landschaft in die Augenwinkel, nur Fragmente, grüne und braune Sicheln, und wenn er die Lider schließt, hört er Karl und Rike, sie betteln, wollen eine Geschichte von ihm erzählt bekommen, jetzt net – er ist krank, er sagt sich, ich bin krank, ich bin aus dem Gleichgewicht, ich spüre mich wie einen Fremden, ich denke die Gedanken eines andern, »ich bin wenig traurig, und wenig lustig. Ich weiß nicht, ob dies der Gang des Charakters im allgemeinen ist, daß wir, so wir dem männlichen Alter uns nahen, von der alten Lebhaftigkeit verlieren …«
Ist so Leben? Kann ich es so beschreiben? Erreiche ich ihn, wenn ich ihn denke und wie von selbst in seine Gedanken gelange? Er ist eine Gestalt ohne Schatten; den Schatten muß ich werfen. Finde ich ihn, wenn ich mir seine Sätze vorsage oder wenn ich, wie vor einigen Wochen, mich in Tübingen an die Mauer des alten Klinikums lehne, sie ist warm von Sonne, wärmt meinen Rücken, und den Passanten nachsehe, ohne sie zu sehen, nurum die Augen zu bewegen, und Stimmen höre, ohne Wörter und Sätze verstehen zu wollen. Ist meine Abwesenheit seine Anwesenheit?
Das Interesse des Herzogs am Stift wird immer bedrückender. Die Stipendiaten erfahren, daß die neuen Statuten besprochen wurden und nur einer, das weltliche Consistoriumsmitglied Georgii, Einspruch erhob. Georgii sei überstimmt worden. Das kommt erst als Gerücht durch, beruhigt die einen, macht die anderen still. Die Derben, und es sind viele, werden noch derber und spielen ihre Kraft aus. Sie machen es dem Herzog im übrigen leichter, die einengenden Paragraphen durchzusetzen. Saufereien sind an der Tagesordnung. Der Widerstand kommt nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch.
Während andere sich über diese dumpfen Störenfriede beklagen, schweigt er sich in seinen Briefen über sie aus. Er wird ihnen aus dem Weg gegangen sein, ein von nahezu allen respektierter »Sonderbarer«. Manchmal hänseln sie ihn. Das hat ihn noch auf dem Seminar verletzt oder erzürnt; darüber ist er jetzt hinaus. Er hat seine eigenen Spielregeln.
Ihr seid schrecklich, sagt er, wenn es ihm zuviel wird, und
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