Härtling, Peter
beklagenswert seien.
Mehr Freiheit wünschen wir uns schon, sagt Hiller.
Mit Freiheiten muß man umzugehen verstehen.
Wir werden es lernen. Hier, im Schweizer Bund, haben wir ja die Anschauung, sagt Hölderlin.
Lavater lächelt: Sie werden genügend Fehler bei uns finden. Sehen Sie denn nicht auf Frankreich?
Alle drei nicken, wie Schüler im Examen.
Lavater wendet sich ganz Hölderlin zu, schweigt, sieht ihm in die Augen, nimmt dann den Brief: Geht es denn meinem Freund Köstlin gut?
Ich sah ihn erst unlängst. Er ist in bester Verfassung.
Ich bitte, sagen Sie ihm meine innigste Empfehlung, auch dem Herrn Diakonus Klemm.
Hölderlin verspricht es.
Die Bedienerin kommt herein, flüstert Lavater etwas ins Ohr, gibt ihm ein Billett. Er liest es, nickt, steht auf, entschuldigt sich, schon wieder habe sich ein Besucher gemeldet, ein angehender Mediziner aus dem Badischen. Sie möchten es ihm nicht verübeln, daß er sie verabschiede. Sie verlassen das Haus.
Als der Medizinstudent Bernhold das Zimmer betrat, schaute Lavater nur flüchtig auf, wies ihn mit einer Handbewegung, vielgeübt, zu einem Stuhl, las in dem Besucherbuch weiter, in dem die drei Tübinger sich während der Unterhaltung eingetragen hatten, nahm eine Feder und schrieb neben den Namen Hölderlins »NB«, notabene!, was er sonst nie tat, als wäre ihm in der Erscheinung oder in der Rede des Besuchers etwas besonderes aufgefallen und als wollte er es festhalten: Auch er ist bei mir gewesen.
Davon wissen die Freunde nichts. Sie fühlen sich bedrückt, gehen schweigsam zum Gasthof; sie haben sich vorgenommen, gegen Abend noch am See zu spazieren. Anderntags machen sie, wieder in bester Stimmung, eine Bootsfahrt bis Wädenwil.
Sie hatten sich, schon in Tübingen, in den Kopfgesetzt, zum Vierwaldstätter See zu wandern, zu den »Heiligtümern der Freiheit«. Ohne die Stätten kennengelernt zu haben, wäre, darin waren sie sich einig, eine Schweizreise sinnlos. Dort, am Morgarten, hatten die Schweizer Leopold von Österreich geschlagen, dort hatte eine Geschichte begonnen, die sie auf ihre Weise und in ihrem Lande fortzuführen hofften.
Am 20. oder 21. April wanderten sie nach Kloster Einsiedeln, hielten sich über Nacht und den folgenden Tagdort auf, konnten schon gelöster die Eindrücke bei Lavater besprechen, der eben doch ein großer Mann und bedeutender Geist, nur gefesselt und entstellt vom Ruhm sei. I woiß net, ob der sich net bloß versteckt, sagt Hölderlin, worauf Hiller ihm antwortet: Des isch au Attitüde, woisch, wenn oiner täglich aguckt wird wie a Weltwunder.
Haben sie im Rosengarten des Klosters gesessen? Aber im April sind die Rosen noch nicht aufgeblüht. Sind sie am Ufer entlanggegangen? Vermutlich haben sie sich nach dem Essen schlafen gelegt, denn bei Anbruch der Nacht wollten sie über den Haggenpaß, vorüber am Großen Mythen zum Vierwaldstätter See.
Nur dieses eine Mal hat Hölderlin eine Wanderung so ausführlich, detailliert beschrieben. Die enthusiastischen Gespräche, Ausrufe der Freunde klingen wie ein Echo mit, die Angst, die sie im nächtlichen Gebirgswald packte, das Glück, die legendären Orte in der Wirklichkeit zu finden. Das Gedicht »Kanton Schweiz« schrieb er, kaum in Tübingen zurück, nieder, widmete es Hiller, dem launigen Cicerone. Es ist ein Erinnerungsstück.
Das Hochgebirge erlebte er zum erstenmal. Die verschneiten Berge hatte er schon Tage vor Augen. Jetzt war er ihnen nah. Das auch noch zur Nacht, wo das Mondlicht die Dimensionen verzerrte. Sie wußten, hatten es bei Tag prüfend betrachtet, daß der Haggenberg von einem schroffen, pyramidenähnlichen Fels, dem Mythen, gekrönt wurde. Halb im Schatten, halb im Licht wurde er zu einer grandiosen vorzeitlichen Figur.
»Schaurig und kühl empfing uns die Nacht in ewigen Wäldern, / Und wir klommen hinauf am furchtbar-herrlichen Haken. / Nächtlicher immer wards und enger im Riesengebürge … / Und der Wolken Hülle zerriß, undim ehernen Panzer / Kam die Riesin heran, die majestätische Myten.«
Bei Tag erreichten sie Schwyz. Von dort wanderten sie zum See, nach Brunnen, zur Tellsplatte und nach Altdorf. Vielleicht ließen sie sich auch mit dem Boot nach Küßnacht rudern. Hölderlin erwartete eine idealische Landschaft. Und da er diese Seen- und Gebirgsansicht, abgegrenzt von dem theatralischen Wall der Alpen, nicht gekannt hatte, entsprach sie seinem Traum. Inmitten dieser von einem klaren Morgen gefaßten Herrlichkeit hatte sich ein
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