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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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der Ephorus bei jedem öffentlichen Auftritt beklagte, hatten das Terrain unübersichtlich gemacht. Kontrollen waren so gutwie unmöglich. Einer der Stiftler hatte behauptet, ein Mädchen über Nacht beherbergt zu haben, was ihm aber niemand glaubte, denn ein solches »Renommiermädle« hätte er, möglichen Karzer einkalkulierend, vorgezeigt.
    Sie hatten an der Rattensphäre – »Sphären« nannten sie die Gänge – eine leerstehende Kammer provisorisch eingerichtet. Stuhl, Tisch und ein Strohlager auf dem Boden. Zwei der Repetenten waren eingeweiht. Auf dem Korridor trieben sich stets unauffällige Wächter herum, die im Notfalle warnen konnten, was jedoch nicht nötig wurde. Lerouge war klein, schmal, sah ganz und gar nicht so aus, wie Hölderlin sich einen republikanischen Soldaten oder einen Späher vorstellte. Ein blutarmes, kränkliches Bübchen. Doch sein Gesicht war das eines erfahrenen Mannes, herb, bäurisch, mit wachsamen, ein wenig wässrigen Augen. Die Verhöre hatten ihn sichtbar mitgenommen.
    Auf den nächsten Morgen war Lerouges Abreise festgelegt. Ein Wagen bis Mannheim war gemietet: Von dort aus mußte Lerouge ohne Hilfe sich bis Mainz durchschlagen.
    Nun, vor dem Abschied, wollte Hölderlin den Franzosen doch sprechen, allein, ohne die wißbegierigen, aufgeregten Freunde. Er legte sich schlafen, stand nach Mitternacht auf, scharrte an der Tür des verbotenen Zimmers. Er bekam keine Antwort, trat leise ein, Lerouge schlief. Er lag, entspannt, auf der Seite, den Kopf auf den Arm gebettet, erwachte aber, als Hölderlin einen Schritt auf ihn zutrat.
    Ah, Sie sind es, Monsieur Hölderlin, sagte er. Sie sind bisher nie gekommen. Mißtrauen Sie mir?
    Aber nein. Er suchte nach einer Erklärung. Lerouge wies auf den Stuhl. Wollen Sie sich nicht setzen? Er saß, kam sich vor, als solle er examiniert werden.
    Sie müssen nichts sagen. Es war Ihnen, vermute ich, zuviel Wirbel. Ihr Kamerad Hegel sagte mir, Sie schreiben sehr schöne Gedichte.
    Er nickte.
    Solche über die Liebe der Menschen zueinander, über die zukünftige Freiheit.
    Ich gebe mir Mühe, Monsieur Lerouge.
    Sie sind zart und traurig, Herr Hölderlin. Lerouge sagte das so ruhig, so sicher, daß Hölderlin nicht überrascht war, doch auch keine Antwort fand.
    Wollen Sie mich nicht nach meinen Erlebnissen in Paris fragen?
    Seckendorf und Hegel haben mir viel davon erzählt, Monsieur.
    Aber Sie haben es nicht von mir gehört.
    Es ist bekannt. Und es ist nun auch nicht so wichtig.
    Worüber wollen wir uns unterhalten?
    Ich möchte Sie fragen, ob Sie an die Zukunft der Republik glauben, Monsieur Lerouge.
    Der Franzose schaute ihn lächelnd an: Wie sollte ich es nicht?
    Sind Sie denn sicher, daß der Mensch, die Menschheit der Freiheit schon gewachsen, für die Freiheit ausgebildet sind?
    Ist die Freiheit denn ein Lehrstoff?
    Aber ja, ich wüßte keinen größeren und schwierigeren. Und Sie meinen, wir haben sie noch nicht gelernt?
    Wir lernen sie, jeder nach seinen Gaben. Und viele verstehen sie nicht, andere wollen sie nicht verstehen.
    Sie haben in diesem Land keine Freiheit, Monsieur Hölderlin.
    Haben Sie sie?
    Das fragen Sie mich, einen Bürger der Republik, einen Schützling der Verfassung?
    Verargen Sie es mir nicht.
    Nein, doch Ihre Nachdenklichkeit schmerzt mich, Herr Hölderlin.
    Ich wüßte, Monsieur, sehr gerne, ob es einen Augenblick gab, in dem Sie Ihrer Freiheit ganz sicher waren.
    Ja! Lerouge setzte sich ganz auf, verschränkte die Arme vor der Brust. Ja. Als sie mich faßten, gefangenhielten in diesem Loch unter der Kirche von Rottenburg, dann nach Hirschau verschleppten, als sie mich schlugen, piesackten, mit heißem Wasser übergossen, da habe ich meine Freiheit an der ihren messen können. Und ich habe sie nie so sicher gehabt.
    Hölderlin ging auf ihn zu, beugte sich zu ihm nieder, gab ihm die rechte Hand, legte die Linke leicht auf seine Schulter, sagte: Sie haben mich aufgeklärt, Monsieur Lerouge. Ich wünsche Ihnen, daß Sie heil in Ihre Heimat kommen, und daß Sie die Freiheit, die Sie haben, behalten. Vive la liberté!
    Er konnte nicht schlafen, hörte, noch vor der Dämmerung, wie Türen auf und zu gingen, hastige Schritte. Man begleitete Lerouge aus dem Stift, bis vor die Stadt, wo der Wagen wartete.
    Nach einer Woche erhielt Seckendorf Nachricht von Lerouge. Der Republikaner hatte Mainz ungeschoren erreicht.
    Wetzel, der sich in der Lerouge-Affäre zurückgehalten hatte, da er nicht an der Befreiung beteiligt gewesen

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