Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
Vom Netzwerk:
eine kurze Zeit, die zu beschreiben ist, die Jahre 1792 und 1793, die Zeit vor dem Aufbruch.
    Ich möchte Erfahrungen ausbreiten, alltägliche Anekdoten, die beginnen und abbrechen, will neue Geschichtenanfangen, die wiederum aufhören, Gespräche in Nürtingen, Tübingen, möchte mit ihm reagieren, denken wie er, dieses von niemandem nachvollziehbare Geflecht von Fühlen und Handeln sichtbar machen, ich möchte die Tage erleben wie er.
    Er hatte an einem Roman zu arbeiten begonnen, dem »Hyperion«, und schreibt für ein Jahr keine Gedichte. Stäudlin, Magenau und Neuffer, denen er aus dem Manuskript vorliest, sind angetan, fördern den Plan. Stäudlin, den er häufig sieht, fordert ihn auf, er solle den Zeitgeist in diesen Roman aufnehmen, und Magenau, der nur noch bewundert, dem der Freund fast ein wenig zu groß geworden ist, rühmt den »Hyperion« als einen freiheitsliebenden Helden, einen echten Griechen, »voller kräftiger Prinzipien«.
    Hölderlin hält sich oft zu Hause auf, schützt Krankheiten vor, kränkelt tatsächlich, ist aber auch unterwegs, in Stuttgart bei Stäudlin und Neuffer, in Vaihingen bei Magenau. Stäudlins Zustand macht ihn besorgt. Die »Chronik« ist eingegangen, nicht nur wegen wiederkehrender Eingriffe der Zensur, fortdauernder Auseinandersetzung mit dem Hof, sondern auch weil die Leser abtrünnig wurden. Die waren auf Schubart eingeschworen. Einem Patrioten, der zehn Jahre im forstlichen Kerker sitzen durfte, nimmt man Schärfen und auch Ungereimtes ab, nicht aber einem Advokaten, der sich mit Jakobinern und anderem Gesindel gemein macht, bis morgens in den Wirtshäusern schwadroniert, hitzige Reden hält, der in der »Chronik« berichten läßt, wie die Preußen in Frankreich hausten, wie armselig das Los der Soldaten ist, während die adeligen Offiziere noch die letzte Habe der Bauern requirieren. Das will man nicht hören.
    Es ist nicht mehr der Stäudlin, der im Kreis seiner Schwestern und Freunde geistreich hastig erworbene Kenntnisse ausbreitet; es ist ein Trinker, der am Morgen schon zur Flasche greift, für seine Mutlosigkeit kaum mehr Worte findet. Welches Feuer war von ihm ausgegangen.
    Dennoch plant Stäudlin eine neue Zeitschrift. Sie solle nur noch Poesie enthalten, auch Übersetzungen. Hölderlin müsse dazu beitragen, und er übersetzt Stücke aus Hesiod.
    Das ist gut, sagt Stäudlin, das kann ich brauchen. Aber jetzt lies aus dem »Hyperion« vor, laß uns nicht warten. Es ist wie ehedem. Neuffer wird, so ist es der Brauch, von Stäudlin gebeten, »die Mädle« zu holen, die längst schon in dem kleinen Salon warten, Rosine, Charlotte und Christiane und deren Freundinnen, die Begrüßung ist turbulent, wieder rührt ihn die Gestalt Rosinens, sie ist noch durchscheinender, hinfälliger, »Edles Herz, du bist der Sterne / Und der schönen Erde wert«, wird er, an sie denkend, schreiben.
    Jetzt liest er vor.
    Er liest, was niemand mehr kennt. Die erste Fassung des »Hyperion« hatte er selbst verworfen, und keiner weiß, welche Gedanken, welche Sätze, welche Passagen eingingen in die Arbeit, die er in Waltershausen, bei Charlotte von Kalb, und in Frankfurt fortsetzte.
    Er spricht noch zurückhaltender als sonst, als wolle er jeden Satz zur Prüfung vorlegen, achtet nicht auf das herausfordernde Nicken Neuffers, bis Stäudlin ihn unterbricht: Sei doch nicht so scheu, dein Hyperion braucht Feuer.
    Das macht ihn frei. Beim Lesen erinnert er sich an den Besuch Matthissons in Tübingen. Friedrich Matthisson! Der berühmte Dichter war mit Stäudlin und Neuffer nachTübingen gekommen, um mit Cotta zu verhandeln, doch auch, wie er liebenswürdig vorgab, um den »hoffnungsvollen Hölderlin« kennenzulernen. Alle Jungen fürchteten den Einfluß dieses Mannes. Sein Wort galt am Hofe Carl Eugens ebenso wie in der literarischen Welt. Stäudlin wußte, daß Hölderlin Matthissons Gedichte nicht ohne Widerwillen las: ihn störte ihre mechanische Gefälligkeit. Dem fällt’s leicht. Der betet nach Belieben an, die Armut des Landmanns oder den Glanz des Herrschers. Doch nun, als der elegante, nach der neuesten Mode gekleidete Herr – dem würde es nie einfallen, Pantalons, die langen Hosen der Revolutionäre zu tragen – ihn begrüßte, fühlte er sich geschmeichelt, entschuldigte die Kargheit der Umgebung, war befangen. Er nahm anfangs kaum an der Unterhaltung teil. Herr Matthisson erwarte, daß er eines seiner neuen Gedichte vortrage. Die müsse er in der Schlafstube holen, er habe

Weitere Kostenlose Bücher