Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Baumspitzen zu sehen war.
»Ich bin bereit! Lieber Gott, auch wenn du nur ein alter Mann bist und vielleicht ein bisschen mehr mit alten Männern sympathisierst, ich bitte dich, habe ein Nachsehen mit zwei verzweifelten Mädchen. Nimm es als einen Akt der Selbstverteidigung. Eine nützliche Lektion für Männer, die kleinen Mädchen im Wald mit ihrem Rhabarber winken.«
Emma lächelte und wandte auch das Gesicht zum Himmel.
»Lieber Gott, ich bitte dich! Trenne dich ausnahmsweise mal von deiner Männersolidarität. Denk an deine Frau und deine Töchter. Wenn du welche hast.« Sie schaute Julia eifrig an, die nickte aufmunternd.
»Ja, es heißt doch, dass alle Kinder seine Kinder sind. Und dann müssten ja auch alle Frauen seine Frau sein.«
»Na, dann solltest du doch genauso viel Empathie mit mir und Julia empfinden wie mit dem Rhabarbermann!«
Sie schwiegen eine Weile und schauten sich an. Kurz darauf hörten sie Schritte auf dem Schotterweg. Julia bückte sich und nahm so viele Schokoladenpuddingbeutel, wie sie fassen konnte. Emma machte es ihr nach, und dann schlichen sie zum Weg. Als sie so nahe waren, dass sie den Rücken des Rhabarbermannes zehn Meter vor sich sehen konnten, hob Julia die Hand. Das war das Zeichen, und als sie zu laufen anfingen, stieß Julia einen Schrei aus. Den abgrundtiefen Schrei des Hasses. Emma erschrak, aber es war auch ansteckend. All die Wut, die sie jemals empfunden hatte, brach hervor, sammelte sich in einem langen Schrei. Der Rhabarbermann hatte sie offenbar noch nicht erwartet, denn er hatte seinen Schwanz noch nicht einmal halbhoch gerubbelt. Der erste Beutel mit Schokoladenpudding traf ihn genau im Gesicht, und auch wenn es kaum wehgetan haben konnte, war sein Schrei voller Schmerz und Erstaunen. Der zweite Beutel traf ihn am Bauch, der Pudding lief über seinen glänzenden Schwanz und die Beine runter. Er stand jetzt still und hielt die Hände zum Schutz vors Gesicht. Die Mädchen warfen mit rasender Kraft einen Beutel nach dem anderen auf ihn. Das schmatzende Geräusch, wenn die Beutel ihn trafen, hallte in der Stille. Der Rhabarbermann stand weiterhin da und ertrug sein Schicksal.
Es dauerte nicht lange, dann waren alle sechzehn Beutel geworfen. Die letzten warfen sie ohne Kraft, und auch der Hass war aus ihren Körpern gewichen.
Atemlos starrten sie die schmierige Gestalt an, die jetzt mit den Händen vor dem Gesicht schluchzte.
Julia ging zu ihm, beugte sich vor und flüsterte ganz nah an seinem Ohr:
»Untersteh dich, noch einmal durch den Wald zu laufen und mit deinem verdammten Schwanz zu wedeln! Hast du verstanden?«
Der Mann schluchzte weiter, die Hände vor dem Gesicht.
»Hast du gehört, was ich sage, du Idiot?«
Sie stupste den klebrigen Körper an, der verlor das Gleichgewicht und stolperte. Der Mann versuchte, stehen zu bleiben, dabei kam ein Jammern über seine Lippen. Plötzlich gab Julia ihm einen festen Stoß, er fiel auf dem Schotterweg zu einem schluchzenden Häufchen zusammen. Vielleicht war es der Triumph, zu sehen, wie der Mann, der gerade noch geglaubt hatte, die Macht zu haben, sie auf so schmähliche Weise verlor. Vielleicht war es der verschmierte Körper des Mannes, der sich willenlos hin- und herschubsen ließ, oder vielleicht war es die Erkenntnis, wie groß der Hass in Julia war. Vielleicht war es alles zusammen, ein einziger wirbelnder Strom von Gefühlen, der Emma verwirrte und Übelkeit in ihr aufsteigen ließ.
Julia trat den am Boden liegenden Körper und schrie. Ihr Gesicht war vom Weinen verzerrt, und jeder Muskel, jede Sehne in ihrem schmalen Körper war bis zum Bersten gespannt. Die Tritte trafen den Schokoloadenpuddingmann und wanderten vom Bauch zum Kopf. Als Emma hörte, wie seine Nase krachte, erwachte sie aus ihrem paralysierten Zustand und riss Julia weg von dem Mann, der nun ganz still auf dem Schotterweg lag.
Julia schrie und trat in die Luft, aber sie ließ sich wegzerren, bis sie hinter der Kurve waren und ihn nicht mehr sehen konnten. Da blieb Emma stehen und nahm Julia in die Arme. Sie drückte sie fest und lange, Julia schluchzte und schniefte.
»Alles wird gut. Ist alles in Ordnung.«
Sie benutzte die Wörter, die Annika immer sagte, wenn Emma Trost brauchte, und strich ihr über den Rücken. Julia erstarrte, als sie die Worte hörte, sie machte sich aus Emmas Armen los und starrte sie mit einem wilden Blick an.
»Es ist überhaupt nichts gut. Nichts ist gut, nichts wird je gut sein. Kapierst du!«
Sie
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