Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
überschritt. Was genau ihn dazu brachte, diese andere Seite von sich zu zeigen. Den anderen Carl, der im Laufe ihrer vierzehnjährigen Ehe hin und wieder hervorgelugt hatte. Ein Mann, der so total anders war als der kontrollierte Carl, der alles verachtete, was auch nur im Entferntesten wahnsinnig war. Der sie manchmal anschrie, sie sei wahnsinnig, eine wahnsinnige blöde Kuh, das Hässlichste, Ekligste, was man sein konnte. Aber was war dann das, was er gestern Abend getan hatte? War sein Geschmiere nicht der Beweis für reinen Wahnsinn?
Gisela massierte die Schläfen, aber sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, die kamen, als die Erinnerung, wie sie auf dem Tisch gelegen und er über ihr gestanden hatte, wieder auftauchte.
Und Erik und Julia hatten alles gesehen.
Dann ein noch schlimmerer Gedanke, eine Erkenntnis, die sie von sich wegschieben wollte. Wenn er das tun konnte, wozu war er dann noch imstande? Bestimmte Dinge waren bereits geschehen, schwer zu verstehen und schmerzlich. Dinge, die nachts passiert waren und die sie am nächsten Morgen damit erklärt hatte, dass es biologische Unterschiede in der Lust von Männern und Frauen gab, das war einfach so. Die Erinnerungen waren so verschwommen, dass sie fast glaubte, sie habe nur geträumt. Das Gefühl von Unwirklichkeit war wie eine dunkle, gemütliche Ecke, in die man fliehen konnte, wenn es zu wehtat.
Plötzlich konnte sie Bilder und Erinnerungen nicht mehr abwehren, sie schossen scharf, waren unerbittlich in ihrer Klarheit. Sie glaubte sogar, das Weinen eines Kindes zu hören, weit weg, eingeschlossen in ihr Schlafzimmer. Sie hatte das Weinen vergessen, es war so viele Jahre her. Eriks Weinen, als er erst ein paar Monate alt war und spätabends aufwachte, weil er Hunger hatte. Carl war schrecklich gelaunt und hatte den ganzen Nachmittag und Abend auf alle und alles geschimpft. Lange Tiraden, wie unmöglich und inkompetent die anderen in der Autofabrik waren. Sie wusste, dass irgendetwas auf der Arbeit passiert war, aber wenn sie ihn fragte, antwortete er nicht, schaute sie nur an, als hätte sie etwas Dummes gesagt. Sein Schweigen und sein schwarzer Blick vermittelten ihr das wohlbekannte Gefühl, dass sie wirklich unsichtbar war, dass er sie tatsächlich nicht hörte. Als Erik in seinem Zimmer da oben schrie, wollte sie aufstehen, um ihm die Brust zu geben. Carls Hand war schneller, er zog sie mit unerwarteter Kraft wieder aufs Sofa, so fest, dass sie sich das Schienbein am Sofatisch anschlug.
»Du wirst dieses Kind nicht verhätscheln, verdammt noch mal! Er kann ruhig ein bisschen schreien!«
Gisela schaute ihn ängstlich an, ihre Stimme war dünn, sie flüsterte fast. »Aber er hat Hunger. Ich habe ihn seit Stunden nicht gestillt, deshalb weint er.«
»Du hast mich verstanden, du verwöhnst ihn. Kinder müssen lernen, dass es nichts nützt, zu schreien, wenn sie etwas wollen.«
Sie konnte kaum glauben, dass er es ernst meinte. Vielleicht hatte er sie nicht gehört?
»Aber er ist doch erst drei Monate alt, er weint, weil er Hunger hat, er hat seit sechs nichts bekommen!«
Sie konnte nichts dafür, ihre Stimme wurde hoch und schrill, als sie den letzten Satz sagte. Carl hörte ihre Verzweiflung, sie sah am Funkeln in seinen Augen, wie er ihre Angst witterte. Wie sie ihn freute.
»Soso, du meinst also, du bist schlauer als ich? Ausgerechnet du willst es besser wissen? Aber eins sage ich dir, mich ärgert es schon lange, dass du aufspringst, sobald dieses Kind den Mund aufmacht. Das macht weinerlich und schwach!«
Eriks Weinen war in ein verzweifeltes Gebrüll übergegangen. Er schrie so laut, dass er nach Luft schnappte. Es dröhnte durch das ganze Haus, und Gisela spürte, wie ihre angespannten, milchvollen Brüste Milch abgaben. Zwei große Flecke breiteten sich vorne auf ihrem Pullover aus, sie drückte mit den Handflächen dagegen, damit sie nicht noch größer wurden. Sie sah Eriks kleines Gesicht vor sich, vermutlich hochrot. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie am ganzen Körper zitterte.
»Bitte, bitte, liebster Carl …«, flüsterte sie. »Lass mich ihn füttern. Ich glaube, er ist wirklich sehr hungrig.«
Carl sah sie an und lächelte kalt, dabei klopfte er ihr auf die Schenkel.
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Jetzt lässt du ihn ausnahmsweise mal schreien!«
Er wusste, dass sie gehorchen würde, und sie wusste es, die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie spürte Eriks verlassenes Schreien im ganzen Körper.
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