Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Zustand zu akzeptieren. Plötzlich ließ Carl Julia los und sank schwer auf einen Küchenstuhl. Er begrub das Gesicht in den Händen. Gisela stolperte zur Spüle und wischte sich das Gesicht mit Küchenkrepp ab.
Ihr schmerzvolles Bemühen, die Gesichtszüge und damit die Ordnung wiederherzustellen, war mehr, als Julia ertragen konnte. Aus irgendeinem Grund tat das noch mehr weh als die eigentliche Erniedrigung.
Sie zog schnell die Schuhe an und lief hinaus in den lauen Augustabend. Lief, bis sie Seitenstechen bekam, lief, bis der Hals brannte und sie Blutgeschmack im Mund hatte. Sie drosselte das Tempo nicht, bis sie vor Emmas Haustür stand. In wenigen Schritten rannte sie die Treppe hinauf und klingelte. Erst als niemand aufmachte und sie erkannte, dass sie nirgendwo hingehen konnte, kamen die Tränen.
Die Möwen können dich taub schreien, wenn du nicht aufpasst!
Annika wachte verstört auf, sie hatte die ganze Nacht viel und intensiv geträumt. Im letzten Traum hatte sie alleine auf einem Platz gestanden, Tausende Möwen kreisten über ihr. Das Schreien überstimmte alles andere, das verwirrte sie, denn sie konnte nicht hören, was sie eigentlich hätte hören sollen: die Geräusche der Stadt, anderer Menschen. Außerdem verdunkelten die Möwen den Himmel und nahmen ihr die Sicht.
Sie stöhnte und setzte sich vorsichtig auf. Der Mund war trocken, der Kopf schwer, es war gestern spät geworden und sie hatte zu viel Rotwein getrunken. Nachdem sie Julia gegen elf nach Hause gebracht hatten, hatte Annika das starke Bedürfnis verspürt, auf dem Sofa zu sitzen und nachzudenken. Emma war schlafen gegangen, sie selbst hatte sich ein Glas Rotwein eingeschenkt (es wurden mehrere), Astor Piazzolla aufgelegt und sich aufs Sofa gelümmelt. Die gemütliche Wärme beruhigte sie und vertrieb die Aufregung.
Der Gedanke an Julia ließ sie nicht los. Das Mädchen berührte sie eigentlich immer, aber gestern Abend hatte es sie geradezu verstört. Ihre Verzweiflung und das rot verweinte Gesicht standen in keinem Verhältnis zu dem, was Julia erzählte. Da war noch etwas, etwas nicht Greifbares. Wie ein Insekt, das unter den Kleidern umherkrabbelt und das man nicht zu fassen bekommt, sosehr man auch sucht. Das einen irritiert und kitzelt.
Sie füllte Wasser und dunkel gerösteten Kaffee in die Kaffeemaschine. Der Duft von Kaffee und das zischende Geräusch der Kaffeemaschine vertrieben die Träume der Nacht, die Wirklichkeit des Samstagmorgens bekam die Oberhand. Sie deckte den Tisch mit Aprikosenmarmelade, Butter und Käse, in den Brotkorb legte sie Kastenweißbrot zum Toasten. Das war ein Ritual, das sie schon seit vielen Jahren pflegten, am Wochenende lange und mit Toast zu frühstücken.
Der erste Schluck des heißen, starken Kaffees war wunderbar. Kurz darauf entfaltete das Koffein seine Wirkung, und sie fühlte sich wieder wie ein Mensch. Konnte sogar die Zeitung durchblättern und kurze Artikel überfliegen. Aber eigentlich suchte sie eine Rezension, die sie geschrieben hatte und die der Kulturredakteur Gunnar Alm am Wochenende veröffentlichen wollte.
Sie drehte nervös an einer Haarsträhne, der Blick überflog die Zeitung, aber sie fand nicht, wonach sie suchte. Sie faltete die Zeitung zusammen und richtete sich auf. Die Enttäuschung strömte durch ihre Adern, und gleich darauf folgte der Zweifel.
Ihre schüchternen Textversuche und Rezensionen von Aufführungen des Landestheaters waren immer noch eine sehr zerbrechliche Angelegenheit. Sie schämte sich, dass es ihr so viel bedeutete, aber konnte doch nicht verhindern, dass der kitzelnde Atem der Eitelkeit sie streifte.
Es war gerade ein paar Monate her, dass Gunnar Alm sie gefragt hatte, ob sie Lust hätte, für die Zeitung zu schreiben. Als Freie natürlich und mit dem Risiko, dass ihr Text oder ihre Rezension abgelehnt würden, wenn sie nicht gut genug waren. Es gab auch nicht viel Geld, aber Annika hatte freudestrahlend ja gesagt.
Gunnar Alm war um die fünfzig und sah in seinem braunen Cordanzug und mit den graumelierten Haaren genau so aus, wie sie sich einen Kulturredakteur vorgestellt hatte. Selbstbewusst, dabei nicht sexy oder extravagant, aber doch irgendwie würdig. Sie saßen auf einem Fest bei Maja und Christer zufällig nebeneinander am Küchentisch und befanden sich sehr schnell in einer lebhaften Diskussion über Strindbergs Frauenfeindlichkeit und wieso das Landestheater ein permanentes Strindberg-Festival zu veranstalten schien. Wenn man sich
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