Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Annika nur eine Wohnung hatten, drei Zimmer mit Küche.
Irgendetwas war komisch mit Julias Elternhaus, aber darüber hatten sie noch nie gesprochen. Es hatte wohl mit der Stille und dem stechenden Geruch nach Putzmitteln zu tun. Etwas hing in den Tapeten und dem gebohnerten Parkett und den Gardinen aus steifem, glänzendem Material. Ein schwacher Geruch von Kaffee, der stärker wurde, je näher man zur Küche kam. Ein Geruch nach Gummi, er stammte von Giselas Gummihandschuhen, die sie beim Putzen anhatte, er mischte sich mit ihrer parfümierten Handcreme, wenn sie die Putzhandschuhe auszog.
Mit ihren gelben Gummihandschuhen und ihrer hellblauen Schürze schien Gisela in eine andere Zeit zu gehören. Trotz der Putzkleidung war sie immer perfekt geschminkt, rosa perlmuttglänzender Lippenstift und passender Nagellack. Ganz anders als Emmas Mutter, Annika, mit den langen, braunen Haaren, die sie entweder offen trug oder zu einem losen Knoten gebunden hatte, und dem schwarzen Kajal, der ihre blaugrauen Augen betonte. Annika sah mit ihrer schmalen Jeans erheblich jünger aus als die meisten Mütter ihrer Freundinnen. Das war Emma einerseits peinlich, und andererseits machte es sie stolz. Annika benahm sich selten wie andere Mütter, schon gar nicht wie alleinerziehende Mütter. Emma wusste, dass Annika viel redete, manchmal zu viel, ziemlich oft sogar. Niemand wusste besser als sie, dass Annika sich manchmal zu breit machte. Sie hatte das Bedürfnis, immer und überall ihre Meinung kundzutun. Und konnte den Mund nicht halten. Sie strahlte etwas aus, das eine eindeutige Wirkung auf die Menschen in ihrer Umgebung hatte: entweder verliebten sie sich, oder sie verabscheuten sie.
Manchmal fragte Emma sich, was Julia über ihre Mutter dachte. Sah sie die Sorgenfalte auf Giselas Stirn? Hörte sie ihren genervten Tonfall? Dass alles wie ein Vorwurf klang?
Über bestimmte Dinge sprachen sie einfach nicht. Eine stille Übereinkunft, nicht daran zu rühren, sie undiskutiert zu lassen. Wie die Fremdheit, die Julia und ihre Eltern offenbar füreinander empfanden. So ganz anders als die Nähe zwischen Emma und Annika, eine Nähe, die Emma manchmal fast wahnsinnig machte. Aber das war wohl der Unterschied, ob man mit beiden Elternteilen und einem kleinen Bruder lebte oder in trauter Zweisamkeit. Vielleicht war es in allen Familien mit einem Vater so? Vielleicht war der Abstand zwischen den Familienmitgliedern in Julias Familie natürlich und die Nähe zwischen Emma und Annika unnatürlich?
Das verwirrte Emma, und wenn sie, selten genug, bei Julia war, sehnte sie sich nach Hause und zu Annika.
Eins war besonders auffällig und verknüpfte auf merkwürdige Weise die ständige Kritik und den Geruch nach Putzmitteln: die Stille bei Julia zu Hause. Dort gab es einfach keine Geräusche. In einem Haus mit vier Personen sollte man doch etwas hören. Das Poltern, wenn jemand die Treppe herunterlief, Klappern aus der Küche, wenn Gisela kochte, ein Radio im Hintergrund, irgendetwas. Aber bei Julia gab es nie Gepolter oder Geklapper. Als ob alle Zimmer schallisoliert wären und alle Familienmitglieder ständig eine Abart des Schweigespiels spielten. Es war eine Stille, von der man Kopfjucken bekam, als hätte man plötzlich Schuppen.
Bei Emma zu Hause war immer das Radio an, oder Annika spielte laut irgendwelche Musik, und dazu sang oder redete sie in der Küche. Ein ständiges Geplapper, entweder am Telefon mit einer Freundin oder eine aufgeregte Bemerkung zu jemandem im Radio, der etwas unglaublich Blödes sagte. Bei Annika klapperte immer das Geschirr, wenn sie deckte oder spülte, das Essen brutzelte übertrieben, kochte wild, lief über und auf den Herd, das führte zu weiteren Flüchen und dem Geräusch des Wasserhahns, wenn sie den Lappen nass machte, um den Herd abzuwischen. Es war eine wilde Geräuschsymphonie, die nichts dämpfen oder zum Schweigen bringen konnte, Geräusche, die Liebe und Geborgenheit bedeuteten. Stille hingegen machte Emma nervös.
Die Kreuzung bildete die Grenze zwischen dem Wald und der übrigen Welt voller Menschen und Häuser. Ein kurzes Stück Weg, das kaum befahren war, genauso leer wie das Niemandsland, das sie gerade verließen. Das Naturschutzgebiet, der Wald oder Nebel , wie die meisten Leute es nannten. Der Name stammte daher, dass 1970 am anderen Ende des Naturschutzgebiets eine Autofabrik gebaut worden war, und der Rauch, der ständig aus den Schornsteinen aufstieg, oft wie ein Nebel über dem Wald
Weitere Kostenlose Bücher